Durch die Einführung des Tarifs vom 6. November 1851 wurde das bisherige Prohibitivsystem aufgegeben und an dessen Stelle ein massiges Schutzzollsystem gesetzt. Die im österreichisch-preussischen Zoll- und Handelsverträge vom 19. Februar 1853 enthaltene Einführung des Differentialzolles sollte die Wege zu einem gegenseitigen Güteraustausch zwischen den vertragschliessenden Staaten ebnen. Der Einfuhrzoll für aus­ländische Tuchwaaren war in diesem Vertrage immer noch hoch genug gehalten, um den Wettbewerb der Ausländer in angemessenen Schranken zu halten. Diese Schranken wurden aber später durch den Handels­vertrag mit Deutschland im Jahre 1868 und besonders durch die berüchtigte Nachtragsconvention zum englischen Handelsverträge (Ende 1869) niedergerissen. Der österreichisch-ungarische Markt wurde mit fremden Wollwaaren überschwemmt und hiedurch eine langdauernde Geschäftskrise herbeigeführt, die bereits im Jahre 1872 begann und bis 1878 nahezu ungeschwächt anhielt.

Die Vertretung der industriellen Interessen der Regierung gegenüber war inzwischen an die neu­errichteten Handels- und Gewerbekammern übergegangen, von denen die für den Osten Nordböhmens seit ihrer Creirung (1850) ihren Sitz in Reichenberg hat.

Einflussreich für die Reichenberger Industrie war ferner die Errichtung von Creditinstituten, an denen es unserer Stadt bisher gänzlich mangelte. Während früher die Reichenberger Tuchmacher genöthigt waren, ihre Wechsel- und Werthpapiere bei Prager und Zittauer Banken und einigen Winkel-Escompteuren gegen hohen Zinsenabzug in Geld umzusetzen, wurden selbe nunmehr durch die Errichtung der Reichenberger Sparcasse (1854), die in der ersten Zeit ihres Bestandes den Escompte zu einer ihrer Hauptaufgaben machte, sowie durch die Errichtung einer Filiale der Nationalbank (1856) in die Lage versetzt, am Orte selbst und zu billigem Zinsfusse sich Geld zu verschaffen.

Endlich, 20 Jahre später als Brünn, erlangte Reichenberg durch den Bau der Südnorddeutschen Verbindungsbahn (eröffnet am i.Mai 1859) und der Zittau-Reichenberger Bahn (25. October 1859) eine Eisenbahnverbindung mit Wien und Deutschland, musste aber noch längere Zeit zuwarten, ehe es vermittelst der Turnau-Kraluper Bahn in eine bessere Verbindung mit der Landeshauptstadt kam (1865), während die Bahnverbindung mit Görlitz und Berlin erst 1871 durch die Fortsetzung der Südnorddeutschen Verbindungsbahn bis Seidenberg perfect wurde; eine directe Verbindung des Reichenberger Industrie­bezirkes mit dem nordwestböhmischen Kohlengebiete und der Elbe dürfte erst 1899 zu Stande kommen, die Fortsetzung der Gebirgsbahn ReichenbergGablonzTannwald bis in das oberschlesische Stein­kohlengebiet aber steht trotz der eifrigsten Bestrebungen immer noch in weiter Ferne.

Die Tuch-Industrie Reichenbergs erfreute sich in den Jahren 18671871 eines grossen Aufschwunges; der durch die Vertheuerung des Rohproductes durch den Unionskrieg, die nachfolgende bedrohliche politische Weltlage und den Krieg des Jahres 1866 niedergehaltene Consum machte sich besonders in Folge der ausgezeichneten Ernteergebnisse der Jahre 1867 und 1868 in ungewöhnlich hohem Grade geltend und noch einmal hatte es den Anschein, als sollten die alten, glücklichen Zeiten für das Klein­gewerbe in der Tuchmacherei zurückkehren. Im Jahre 1870 wurde die Tucherzeugung in der Stadt und der nächsten Umgebung von 400 selbstständigen Unternehmern auf etwa 3000 Hand- und 500 mechanischen Webstühlen betrieben; an 200.000 Stück Tuche und tuchartige Stoffe wurden im Stadt-, 100.000 Stück, im Landbezirke Reichenberg erzeugt. Der Werth der Jahresproduction wurde auf 30 Millionen Gulden geschätzt.

Dieser Periode der grössten Regsamkeit und Blüthe folgte eine langandauernde Periode des Still­standes und allmählichen Niederganges. Wir haben bereits als eine der Grundursachen der von 1872 bis 1878 währenden Stagnation den durch die Nachtragsconvention zum englischen Handelsverträge inaugurirten Freihandel bezeichnet. Verschärft wurde die kritische Situation der österreichischen Industrie durch die in Folge schwindelhafter Speculationen im Mai 1873 eingetretene grosse Börsenkrise und die Missernte im selben Jahre.

Die seit 1871 sprunghaft sich steigernde Einfuhr fremder und besonders englischer Wollwaaren wirkte auf die österreichische Tucherzeugung nicht allein durch die Massenhaftigkeit des Imports, sondern vorzüglich durch den Umstand, dass die importirten Waaren bei ziemlich gutem Aussehen von ungemeiner Billigkeit waren. Trotzdem es sich binnen Kurzem herausstellte, dass diese Waaren ebenso schlecht als billig seien, weil zu deren Fabrication nicht reine Wolle, sondern zumeist Kunstwolle und Baumwollabfälle verwendet worden waren, wurden durch diese Schwindelconcurrenz in erster Reihe die Preise der inländischen Tuchwaaren auf einen Tiefpunkt herabgedrückt, der jeden Gewinn illusorisch machte und zu zahlreichen

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