Ansicht vorlegen, und trafen nach Bedarf ihre Auswahl. Auf diese Weise hatte der kleine Meister ebenso günstige Aussichten auf den Verkauf seiner Erzeugnisse, wie der Fabrikant. Nunmehr aber liegt der Einkauf zum weitaus grössten Theile in den Händen von am Platze wohnenden Commissionären und Tuchhändlern, welche vor jeder Saison sich eine Mustercollection zusammenstellen, mit derselben alle Plätze der Monarchie bereisen und erst auf Grund dieser Collectionen und der auf der Reise erhaltenen Aufträge bei den Tucherzeugern ihre Bestellungen machen. Der kleine Erzeuger ist schon von vornherein nicht in der Lage, Muster auszugeben, die Commissionäre und Tuchkaufleute machen ihre Bestellungen nur dort, wo sie sicher sein können, selbe rechtzeitig in beliebigem Umfange und gegen möglichst langes Respiro ausgeführt zu erhalten. Das Facit dieses Vorganges ist die Verdrängung des ehemaligen Wett­bewerbes der kleineren Erzeutninef.

Aber auch die mittleren und grösseren Tuchfabrikanten Reichenbergs sind in der letzten Zeit in einen Concurrenzkampf bedrohlichster Art verwickelt worden. Mit ihnen sind jene grossen Wollwaaren- Fabriken der Stadt und Umgebung in Wettbewerb getreten, welche bis vor wenigen Jahren sich aus­schliesslich mit der Erzeugung von Woll- und Halbwollwaaren für die Damenconfection befassten. Seitdem nun Kammgarnstoffe für Herrenbekleidung in Verwendung kommen, haben diese Grossbetriebe sich auch der Erzeugung von Kammgarnartikeln für Herrenconfection zugewendet; sie sind hiebei nicht stehen geblieben, sondern haben, nachdem sie einmal in der Herrenstoffbranche festen Euss gefasst hatten, auch mit der Erzeugung von Modewaaren in Streichgarnen und Cheviots begonnen. Die capitalistische und maschinelle Uebermacht, welche diesen Grossbetrieben zur Seite steht, macht sich bezüglich unserer Tuchfabriken bereits in schwerster Weise fühlbar und mit Bangen sehen die Besitzer der letzteren der Zukunft entgegen.

Die Jahre 1896 und 1897 zählen in ihrem geschäftlichen Verlaufe zu den ungünstigsten seit längerer Zeit. Für die Ungunst derartiger Zeitläufe pflegen oft Factoren verantwortlich gemacht zu werden, deren Einwirkung in der Zeit günstiger Geschäftslagen gar nicht, oder doch in keiner drückenden Weise empfunden wird. Deshalb darf die Hoffnung, dass der Industrieplatz Reichenberg aus der gegenwärtigen Geschäfts­krise, wie aus so vielen früheren, siegreich hervorgehen werde, nicht ganz aufgegeben werden. Sicher erscheint jedoch leider das Eine, dass durch jede derartige Krise das Kleingewerbe in der Tuchmacherei immer mehr und mehr an Boden verliert, wie dies folgende Zahlen beweisen.

Im Jahre 1870 bestanden in Reichenberg 350 selbstständige Tucherzeuger,

» » 1880 » » » 300 » »

» » 1890 » » » 200 » »

» » 1897 bestehen » » 100 » »

» » 1870 waren im Betriebe 3000 Handwebstühle, 300 Kraftstühle,

» » 1897 sind » » 500 Handwebstühle, 1600 Kraftstühle.

Dagegen hat sich die Menge der Erzeugung in demselben Zeiträume, abgesehen von den durch die besseren oder schlechteren Geschäftsconjuncturen bedingten Schwankungen, nicht wesentlich geändert. Die Jahres­erzeugung dürfte sich heute noch, wie im Jahre 1870, im Stadtgebiete auf nahezu 200.000 Stück, ä 30 Meter, der verschiedenartigsten Tuchwaaren belaufen, wogegen der Verkaufswerth von 20 Millionen auf etwa 15 Millionen Gulden gesunken ist, welcher Mindererlös weniger durch den Rückgang der Rohstoffpreise, als durch die Verbilligerung der Erzeugung überhaupt und den Preisfall des fertigen Productes insbe­sondere zu erklären ist. *)

Die Reichenberger Tuchmacher-Genossenschaft ist in ihrem inneren Wesen von dem Wechsel der Zeiten ziemlich unberührt geblieben. Die Anzahl ihrer vermögensberechtigten Mitglieder ist zwar von 1 200 im Jahre 1870 auf 810 im Jahre 1897 gesunken und von den sieben Wasserwerken, welche die Genossenschaft im Jahre 1870 besass, wurden vier verkauft. Allein der Erlös für dieselben wurde zum Umbaue der übrig­gebliebenen drei Wasserwerke und zum Neubaue des Meisterhauses verwendet, so dass der Ertrag dieser vier im Besitze der Genossenschaft verbliebenen Realitäten im ungefähren Bruttobeträge von 20.000 fl. dem der früheren acht Realitäten nahezu gleichkommt. Unter einer vorzüglichen Verwaltung leistet die Genossen­schaft heute noch ihren Mitgliedern und Angehörigen wichtige Dienste in allen gewerblichen und zollpolitischen Angelegenheiten, und den Ertrag ihres Vermögens verwendet dieselbe zur Förderung öffentlicher, gemein­nütziger Bestrebungen und zur Unterstützung ihrer hilfsbedürftigen Mitglieder.

') Vorstehende statistischen Daten beziehen sich ausschliesslich auf die eigentliche Tuch-Industrie Reichenbergs.

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