Fallimenten und Geschäftseinstellungen führte. Später, und dies muss als eine der schlimmsten Folgen der Invasion englischer Schundwaaren bezeichnet werden, sahen sich die österreichischen Wollwaarenerzeuger und auch viele Reichenberger Tucherzeuger genöthigt, selbst zur Erzeugung derartiger Schundwaaren überzugehen. Die Findigkeit unserer Unternehmer bewährte sich auch in diesem Falle. Bald waren Spinnereien, Webereien und Appreturen auf die neuartige Fabrication eingerichtet. Die Geringfügigkeit des Gewinnes am einzelnen Stücke dieser billigen Waaren drängte zur Massenerzeugung derselben, welche dadurch erleichtert und begünstigt wurde, dass in der Stadt und Umgebung zahlreiche geschulte Arbeitskräfte als Lohnweber zur Verfügung standen. Wohl giengen bei dieser Jagd nach dem Glücke zahlreiche Betriebe zu Grunde, deren Unternehmer ihre Kraft und ihr Können überschätzt hatten, dafür brachten es Andere in derselben kritischen Zeit zu grossem Vermögen und stehen zum Theile heute noch in der Reihe der Tuch-Gross-Industriellen mit an erster Stelle. Der Ruf der Solidität unseres Platzes aber erlitt durch diese Art der Erzeugung eine Einbusse, von der er sich lange nicht zu erholen vermochte.
Es verdient hier hervorgehoben zu werden, dass durch das Zusammenwirken aller durch die seitherige Zoll- und Handelspolitik geschädigten Industriellen eine Aenderung im handelspolitischen Systeme herbeigeführt und mit dem am i. Januar 187g erfolgten Inslebentreten eines autonomen Zolltarifes auch den österreichischen Wollwaaren-Industriellen wieder eine günstigere Stellung für die Behauptung des heimischen Marktes geschaffen wurde.
Dagegen sind die Absatzwege der österreichischen Tuch-Industrie ins Ausland immer unzugänglicher geworden. In noch höherem Grade, wie bei uns, waren andere Staaten bemüht, die heimische Arbeit durch hohe Einfuhrzölle zu schützen, und haben dies in nahezu prohibitionistischer Weise die Vereinigten Staaten von Nordamerika, einst ein wichtiges Absatzgebiet für Reichenberger Tuche, gethan. Durch den Zollkrieg mit Rumänien erlitt besonders der Absatz von billigen Confectionsstoffen nach diesem Lande eine enorme Einbusse. Das einst so blühende Exportgeschäft unseres Platzes nach der Levante wurde uns durch deutsche und englische Firmen nahezu zur Gänze entrissen. Andere ausländische und überseeische Absatzgebiete (Ostasien und Südamerika) zu gewinnen, fehlt es uns an einem unternehmenden Handelsstande und an einer ausreichenden consularischen Vertretung.
Nahezu allein auf den Absatz unserer Waaren im Inlande beschränkt, äussert jedes grössere Elementarereignis, jede schlechte Ernte, jeder Preisrückgang der Cerealien bei günstigen Ernten, den schädlichsten Einfluss auf die heimische Fabrication, beziehungsweise den Verkauf der Erzeugnisse.
Derlei Ursachen mögen wohl auch zum grossen Theile mit Schuld daran tragen, dass die Aenderung der Zollpolitik nicht so schnell, als dies erhofft worden war, Erfolge zeitigte. Die erste Hälfte der Achtzigerjahre hindurch blieb der Geschäftsgang schwankend, die Preise unbefriedigend. Eine grössere geschäftliche Regsamkeit machte sich sodann vom Jahre 1886 an geltend und stieg von da an in Reichenberg die Höhe der Erzeugung constant bis zum Jahre 1892, um sodann wieder langsam zurückzugehen.
In diese Zeit, und zwar in das Jahr 1890, fällt für Reichenberg die Aufnahme der Fabrication von Stoffen aus Kammgarnen, eine Neuerung, die für viele Zweige der Tuch-Industrie, besonders die Spinnerei, Färberei und Appretur, weittragende Folgen hatte, ebenso aber auch den nahezu vollständigen Niedergang des noch bis 1870 so blühenden hiesigen Kleingewerbsbetriebes in der Tuchmacherei beschleunigte. Es zeigte sich nämlich sehr bald, dass die Herstellung verkaufsfähiger Kammgarnstoffe das Weben derselben auf mechanischen Stühlen bedinge. Die Einführung der mechanischen an Stelle der Handweberei erfordert für den Einzelnen nicht allein grosse Geldauslagen, sondern auch die Beschaffung von Betriebsstätten mit Kraftanlagen. Diesen Anforderungen fühlten sich nur Wenige der kleinen und mittleren Unternehmer gewachsen und ein grosser Theil derselben zog sich deshalb vom Geschäfte ganz zurück. Die Streichgarn- Lohnspinnerei verlor die Grundlage ihres Bestandes, da die für die Kammgarnstoffe erforderlichen Garne von grossen in-und ausländischen Kammgarnspinnereien fertig bezogen wurden; die Lohnfärberei und Lohnappretur, wie sie bisher bestanden, hörten zum grössten Theile auf und giengen an die grossen Appreturanstalten für Kammgarnstoffe über.
Im Verlaufe der letzten zwei Jahrzehnte bewirkten noch zwei andere Factoren den allmählichen Untergang des Kleingewerbes in der Tuchmacherei. Hieher zählt vor Allem die Umgestaltung des Zwischenhandels in Tuchwaaren. In früherer Zeit und bis in die Mitte der Siebzigerjahre verkehrten hier zahlreiche Tuchhändler aus allen Theilen der Monarchie, um persönlich ihre Einkäufe zu machen. Dieselben Hessen sich in ihren Absteigquartieren durch die bei den Tuchmachern angestellten Tuchträger die ganzen Stücke zur
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