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Die Groß-Industrie Oesterreichs : Festgabe zum glorreichen fünfzigjährigen Regierungs-Jubiläum seiner Majestät des Kaisers Franz Josef I. dargebracht von den Industriellen Österreichs 1898 ; Vierter Band
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DIE WIRKWAAREN-INDUSTRIE.

och vor fünf Decennien konnte von einer Wirkwaaren-Gross-Industrie in Oesterreich im eigent­lichen Sinne kaum gesprochen werden, nachdem die Wirkerei bis dahin ihre weit zurückliegen­den, bescheidenen Anfänge nur wenig überholt hatte. Derselben stand zu jener Zeit nur erst der langsam arbeitende, wenig leistungsfähige Handwirkstuhl zu Gebote. Gewirkte Unter­kleidung war schon in Folge der theuren Herstellungsweise ein nur den Bemittelten zugänglicher Luxus­artikel, während die arme Bevölkerung ihn nicht kannte und sich darauf beschränkte, bestenfalls den Fuss durch Umwickelung mit Stofflappen einigermassen zu schützen. In der mittleren Classe bediente man sich der mit der Hand gestrickten Kleidungsstücke, und es war der Stolz jeder guten Hausfrau, für ihre Familie eine möglichst grosse Ausstattung von selbst gestrickten Strümpfen, Jacken u. s. w. fertigzustellen. Ge­wirkte Strümpfe und Unterbekleidung konnte nur der Wohlhabende bezahlen und consumiren, denn die Production des Handcoulirstuhles war zu klein und zu theuer, um den Artikel Wirkwaare populär zu machen.

Der erwähnte Handwirk-, auch Coulirstuhl genannt, nach allgemeiner Annahme von einem Engländer Namens William Lee im 16. Jahrhunderte erfunden, fand zuerst in Frankreich grössere Verbreitung, welches Land daher als die Wiege der Wirkerei bezeichnet werden mag. Von Frankreich brachten Emigranten nach der Aufhebung des Edictes von Nantes diese Industrie nach Deutschland und führten sie namentlich in Württemberg ein. Daselbst wurden Niederlassungen gegründet, und heute noch ist Schwaben sowohl für die Wirk-Industrie selbst, wie für den Wirkmaschinenbau von hervorragendster Bedeutung.

Wann die Wirkerei in Oesterreich eingeführt wurde, ist schwer nachweisbar. Es wird angenommen, dass es im 17. Jahrhunderte geschah. Die ersten Wirkereien wurden in Böhmen, und zwar in der Ossegger, Klostergraber, Schönlinder, Egerer und Ascher Gegend sowie in Strakonitz gegründet. Wir können diese Orte als wichtigste Stützpunkte der Industrie im Auge behalten.

Die Epoche weltbewegender Erfindungen, die mit dem Zeiträume zusammenfällt, in welchem eine Gross-Industrie auf dem Gebiete der Wirkerei sich als erstarkender Zweig des umfassenden Textilbereiches zu entfalten beginnt, war auch für die technischen Voraussetzungen ihrer wachsenden Entwickelung hoch­bedeutsam und überaus fruchtbar.

Wir waren Zeugen, mit welchen Riesenschritten, ja wie in Fieberhast der menschliche Geist sich jegliche Naturkraft dienstbar machte, wie Entfernungen schwanden, der Gedanke selbst das Erdenrund, einer Spanne Raum gleich, blitzschnell überflog. Nun förderten Millionen und Abermillionen arbeitsamer Hände die Mission des Jahrhunderts. Zu Lande und zu Wasser, im rauhen Norden, in der eisstarrenden Gletscherwelt, auf dem unwirthlichen Meere waren die grandiosen Aufgaben der Technik zu lösen! Neu bewahrheitet hat sich bei diesem Aufgebote ganzer Heere von Arbeitern der alte Erfahfungssatz, dass

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