DIE STROHHUT-INDUSTRIE.
u den Industrien, für welche der Zeitraum, den die Berichte dieses Werkes umfassen, von ausschlaggebender Bedeutung wurde, gehört zweifellos die Strohhut-Industrie. Heute auf bedeutender Höhe und mit Recht als fabriksmässig betrieben bezeichnet, war sie zu Beginn dieser Periode von bescheidenstem Umfang. Zutreffend konnte von einer »Industrie« im eigentlichen Sinne des Wortes überhaupt nur in Wien gesprochen werden; im ganzen übrigen Oesterreich nicht. In Krain, im nördlichen Böhmen, in Tirol übten wohl am häuslichen Herde Kräfte, deren eigentlichen Beruf die Landwirthschaft bildete, in Zeiten, wo ihnen diese Arbeit unmöglich war, die Fertigkeit, primitive Hüte in einem Stücke zu flechten. Dieselbe Methode, nach der aus Theilen verschiedener Pflanzen die Eingeborenen der Philippinen ihre Manilas, die Bewohner von Centralamerika ihre Panamas und die gewandten Flechter Toscanas ihre echten Florentiner anfertigen, war auch hier im Schwung. Das Stroh einzelner örtlicher Bodenfrüchte, unzulänglich vorbereitet, wurde verarbeitet nach den Anweisungen, die einst — etwa um 1770 — ein Krainer Soldat, der in Florenz gedient und dabei kennen gelernt hatte, welch einträglichen Erwerb für die dortige Bevölkerung die Ausnützung des feinen Weizenstrohes bildete, mit nach Hause brachte und von hier aus verbreitete. Diese Art der Erzeugung hat in Oesterreich heute nur mehr den Zweck, billige Waare bäuerlichen Charakters für die ländliche Bevölkerung zu liefern.
Die eigentliche Strohhut-Industrie wird nach ganz anderem Verfahren betrieben. Sie bezieht von sogenannten Geflechtshändlern als Rohmaterial mehr oder minder (3 bis 30 Millimeter) breite und lange, band-, litzen- oder spitzenartige Streifen verschiedensten Materiales — Stroh, Bast, Holz, Hanf, Rosshaar, Baumwolle, Halbseide etc. — und verarbeitet diese zu Hüten, indem sie zunächst roh, gebleicht oder gefärbt zusammengenäht, dann appretirt und endlich geformt werden. Diese Art der Erzeugung aber bestand in Oesterreich 1848 wohl nur in Wien. Hier hatten sich ungefähr zu Beginn des Jahrhunderts einige Italiener, die ursprünglichen Lehrmeister dieser Branche für das ganze übrige Europa, mit bescheidenen Geschäften etablirt. Einheimische erlernten das Gewerbe, und so waren 1848 schon zahlreiche Betriebe in Wien, meist kleinere, nur einige schon seit länger bestehend und von grösserem Umfange, wie Moravsky, Trenk, Poltrini, J. Mayer u. A. Sie hatten fast nur den localen Bedarf zu decken, und dieser war verhältnismässig gering. Der Strohhut war noch mehr ein Luxusartikel der Reichen, und selbst diese benützten ihn nicht viel. Ein echter Florentiner, freilich so kostbar, dass bessere Exemplare hundert Gulden und darüber kosteten, reichte, mit geringen Aenderungen in jedem Jahre, wohl ein Decennium als Kopfputz aus. Was sonst an Modehüten getragen wurde, waren meist Capotes und Toques, welche die Modistinnen sich grösstentheils selbst machten nach Modellen, die sie von Paris und London her bezogen.
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