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bild. Sie schnupft Tabak und öflnet den Mund zum Singen, so oft eine Proceesion an ihrer Kirche vorüberzieht. Es wird aber immer ein Räuspern daraus. Vor ihr liegen Wachsstöeke mit vergoldeten Heiligenbildern, und viele, viele Riindel von weissen, grünen,und rothen Waehskerzchen, die grossen Anwerth finden. Denn jede echte Wiener Familie ehrt ihre lieben Todten dadurch, dass sie an deren Todestage ein paar Kerzchen anziinden lässt lind dabei ein kurzes Vaterunser betet. Viele hundert Centner Wachs werden so alljähr­lich in Wien unnütz verbrannt, ohne dass sie einer Seele zur Seligkeit verhelfen; und dennoch machen diese flimmernden dünnen Lichtlein in allen Kirchen einen guten Eindruck; denn sie be­weisen, dass auf den täglichen Gräbern eine tägliche Erinnerung blühen bleibt, und dass der echte Wiener, möge er noch so liberal und radical sein, immer an ein Wiedersehen glaubt. Der starrste Atheist wird hier durch seine Familie zum Theisten.

Und hinter diesem leuchtenden Glaubensbekenntnisse der Ungläubigen hockt die Kerzelverkäuferin auf ihrem Schemel, und bläst hin und her, und kratzt alte gestockte Kerzenpfützen fort und klebt neue grüne, weisse oder rothe Seelenerlösungen auf den Stein. Sie selber rechnet wohl nur die Kreuzer zusammen, die sie an den armen Seelen im Fegfeuer verdient. Aber der liebe Gott hat sicher seine Freude an den Opfernden, welche diese Kerzlein in dankbarer Pietät leuchten lassen, und so bleibt wohl das Kerzel- weib als Wahrzeichen der Wiener Kirchen erhalten, bis - auch der alte Stefansthurm zu den Landwehrübungen einriieken muss.