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Von echten lyrischen und epischen* Poeten hat Wien nur Anastasius Grün aufzuweisen, der noch dazu meistens auswärts lebt und seit seinenSpaziergängen eines Wiener Poeten sich seine Inspirationen nicht mehr aus der Kaiserstadt geholt hat.

Grün ist ein guter College und Kamerad für die Schriftsteller besserer Sorte, ohne aber dabei den Weltmann aufzugeben-, er spricht wohl die Sprache des Handwerks, ohne aber in dessen Jargon zu verfallen.

Einer der liebenswürdigsten Dichter als Schriftsteller und als Mensch ist A. SiIberstein, der gemüthreiche Verfasser der Dorfschwalben aus Oesterreich. Er malt fein und frisch zugleich; sein Styl ist gleichsam thauig.

Sigmund Schlesinger, der geistreiche Comödienschreiber, gehört durch seine Theaterstücke ebenfalls noch der Elite der Wiener Literatur an, obwohl er in der letzten Zeit überwiegend Feuille­tonist war.

Eine eigenartige Stellung nehmen zwischen unseren Dichtern die beiden Dichterinnen Betti Paoli und Ada Christen ein. Beide so verschieden in ihren Dichtungen, sind es auch in ihrem Leben.

Betti Paoli, fast menschenscheu und einsiedlerisch, hat etwas Nonnenhaft-Sanftes in ihrer stillen Weise.

Frau Ada Christen, die Sängerin der düster ergreifenden Magdalenenlieder, ist in Wirklichkeit das glücklichste und fröh­lichste Gemütli, die sorgsamste Hausfrau, die liebenswürdigste Gastfreundin. Ihr Lachen ist ebenso silberklar wie ihr Blick.

Von Bedeutung als glückliche und lebhafte Beobachterin der Natur ist Aglaja von Enderes. Ihre reizvollen Schilderungen aus dem Thierlcben sind Idyllen, die aber für jeden Naturfreund durch die genaue Kenntniss des Wesens der Tliiere einen mehr als unterhaltenden Genuss bieten. Gräfin Marie von Wicken­burg und Baronin Marie Ebner-Eschenbach haben als fein­fühlende, formgewandte Dichterinnen auch ausserhalb Oesterreichs viele Verehrer gefunden.