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In Wien ist jetzt alles von — bis znm Fiaker, bis zum Lumpensammler herab. Wehe dem Fremden, welcher dem Droschkenkutscher sein „Herr von Droschkenkutscher“ und der Kehrichtfrau ihr „Frau von Kehrichtfrau“ vorenthält!
Die Partei, welche das gemeine, keifende Hausmeistersweib nicht mit Frau von oder gnädige Frau titulirt, erhält beim nächsten Quartal sicher die Kündigung. Und der zerlumpte Ilacker- bube prätendirt sein „Herr von Gaugl“ ebenso sicher wie die Dienst - magd das „gnädige Fräulein“; beide behaupten ihr Recht mit den Fäusten, und der vernünftige Mensch, welcher es wagen würde, den Einen mit „lieber Freund“ oder die Andere mit „Jungfer Köchin“ zu tituliren, darf sich auf eine Flutli von Schimpfwollen gefasst machen und auf den Ruf eines ungebildeten Barbaren.
Wien, diese grosse und schöne Stadt erhält dadurch das Ansehen eines Bicetre oder Bedlam. Heutzutage, wo schon die ganze civilisirte Welt die vernünftige Verkehrsweise der Amerikaner aeceptirt hat, wo selbst im höflichen Frankreich das monsieur und madame, im stolzen hochmüthigen Spanien das senor, im adelsdurstigen Russland das pan für den Bürger und das chlopec für den Diener genügt, bietet Wien allein das unheimliche Schauspiel einer Bevölkerung, die sich gegenseitig mit adeligen Titulaturen narrt, selbst wenn sie den Kehrbesen trägt oder die Wichsbürste in der Hand hält.
Und wenn man daher von den Adelsklassen Wien’s spricht, so hat man eigentlich unrecht, denn ganz Wien ist von Adel; nirgends schämt man sich so sehr seines bürgerlichen Standes und nimmt seinen einfachen ehrlichen Namen ohne Prädikat fast als Beleidigung und Missachtung auf. Jeder Schusterjunge hat da sein Wappen und der Fremde erstaune nicht und lasse sich nicht zu allzugrosser Ehrfurcht verblüffen, wenn ihm ein „Herr von Thury“ die Schuhe putzt und ein „gnädiges Fräulein“ die Carbonaden röstet. 0 vanitas!