Die Uebersiedlungsmaassnahmen beschränkten sich überdies nicht allein auf die Seidenwaaren- Erzeugung, sondern es betheiligten sich auch fast gleichzeitig einige hervorragende Seidenband-Fabri­kanten an denselben.

Lediglich diese Verländerung und Decentralisation der Productionsstätten hat die österreichische Seiden-Industrie damals, wie man geradezu sagen muss, gerettet!

Ihre moderne Wiedergeburt zu einer für die Weltconcurrenz gerüsteten Gross-Industrie vollzog sich in diesen dazumal neugegründeten Provinzfabriken, und so ist aus einer altwienerischen Hausmanufactur vom »Brillantengrunde« des Vormärz, gestählt durch den Wettkampf auf dem Weltmärkte, eine mächtige, imposante, wahrhaft österreichische Gross-Industrie emporgewachsen.

Freilich erscheint die Liste der »Fabrikanten« vom »Brillantengrund« gegenüber dem heutigen Stande der Seiden-Industrie enorm gelichtet. Aber die »rage des nombres« von »anno dazumal« kann keinen Kenner und nüchternen Beurtheiler der obwaltenden Verhältnisse irreführen und ihn den gross­artigen Fortschritt österreichischen Gewerbefleisses übersehen lassen, der sich in dem geschilderten Um- wandlungsprocesse vollzogen hat.

Dank der zielbewussten Energie und dem bahnbrechenden, industriellen Genie der Alt-Wiener Fabriksherren repräsentiren die, beiläufig gezählt, kaum etlichen dreissig grossen Fabriks-Etablissements der Gegenwart an Capital, Productionsumfang, Ertrag und Wehrhaftigkeit eine Summe wohlorganisirter menschlicher Geistes- und Gewerbethätigkeit, wie sie zu den Zeiten der noch nach »Hunderten« zählenden Gremialliste vordem niemals, auch nur annähernd, erreicht worden ist.

So hat sich eine ursprünglich unheilvolle Massregel, die Aufhebung des Zollschutzes, indirect doch als segensvoll erwiesen, indem sie in letzter Linie zu dem machtvollen Aufraffen und dem glücklichen Aufschwünge der modernen österreichischen Seiden-Industrie den Anstoss gegeben hat.

In technischer Hinsicht bedeutet das Jahr 1848 einen entscheidenden Wendepunkt.

Bis dahin ist allgemein nur mit Handstühlen gearbeitet worden, ausgenommen jene Kraftstühle, welche Hornbostel schon seit 1816 und Philipp Haas bereits seit Anfang der Vierzigerjahre be­schäftigte.

In den neuerbauten Provinz-Etablissements der Wiener Fabrikanten gelangten nun fast ausschliesslich nur Kraftstühle, und selbstredend nur die erprobten modernen maschinellen Einrichtungen zur Verwen­dung unter Ausnützung vorzüglicher Dampf- und Wassermotoren.

Zahlreiche hervorragende Verbesserungen des maschinellen Betriebes dieser Industrie sind öster­reichischen Ursprungs.

Schon 1806 erbauten Andrae & Bräunlich in Wr.-Neustadt, deren Etablirung noch in die Regierungszeit Kaiser Josef II. fiel, Sammtstühle, auf welchen zwei Stücke übereinander gewebt wurden, um dann auseinandergeschnitten zu werden. Die überaus ingeniöse Idee, welche der Construction dieser Sammtstühle zu Grunde lag, hat erst in unserer Zeit ihre vollendete Ausgestaltung in der Herstellung grosser eiserner Kraftstühle gefunden, auf welchen nunmehr sogar bis zu drei Paar Sammtstücke parallel über-, respective nebeneinander gewebt und sodann durch ein an der Lade hin- und herfliegendes Messer (mit automatischer Schleifvorrichtung) auseinandergeschnitten werden.

Auch die Mühlstühle werden in Wien heute noch wesentlich anders, als im Auslande, construirt und hat das inländische System unleugbar die Vortheile weitaus grösserer Leichtigkeit in der Bedienung für sich.

Wiener Constructeure waren es auch, welche die von Philipp Haas erfundene und bis heute in den inländischen Fabriken fast ausschliesslich verwendete Spindellade bis zur. sechsreihigen Brochirlade ausgedehnt und ihr System in vorzüglicher Weise vervollkommnet haben. Die später aus dem Auslande zu uns gebrachte Doppellade findet sich im Princip schon bei dem seit einem Jahrhundert in Niederöster­reich gebräuchlichen »Trittstuhl«. Wie so oft, begegnet man auch da wieder einmal der merkwürdigen Erscheinung, dass österreichische Erfindungen ins Ausland dringen und von dort nach einiger Zeit als fremdländische Neuheiten und Errungenschaften zurückkehren.

Ganz ähnlich verhielt es sich mit den neuartigen, ganz aus Eisen construirten Schweizer Spül­maschinen, welche die alten Arztschen Spülmaschinen in letzter Zeit nahezu vollständig verdrängt haben.

Die von Aegydius Arzt in Wien um 1799 construirte Spülmaschine war eine glänzende, epoche­machende Erfindung. Vollkommen zweckentsprechend, fand sie sofort ihren Weg in alle Industriestaaten und ist ihr Grundprincip heute noch unverändert beibehalten worden.

Die Gross-Industrie. IV.

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