Urbarmachung der Hutweiden und der intensivere Betrieb der Landwirtschaft überhaupt führten zu einer wesentlichen Einschränkung der Schafzucht und dies umsomehr, als die Rentabilität der Wollproduction mit der zunehmenden Concurrenz Süd-Afrikas, Süd-Amerikas und Australiens sank, welche immer grössere Quantitäten auf den europäischen Wollmarkt warfen. Zunächst waren es wohl nur gröbere Wollsorten, welche in Concurrenz traten, später aber auch vermöge des Fortschrittes der Schafzucht und der Ver­edlung der Behandlung des Rohproductes auch feinere Wollen.

Die Wollproduction in Oesterreich-Ungarn betrug im Jahre 1880 nur mehr rund 22 Millionen, um im Jahre 1895 auf rund i 82 Millionen Kilogramm zu sinken. Die Qualität der österreichischen Wolle ist allerdings noch auf dem alten Höhepunkte geblieben; sie findet daher noch immer, insbesondere in Frank­reich ihren steten und guten Absatz. Die seit einiger Zeit andauernde Erhöhung der Wollpreise lässt allerdings auch erwarten, dass eine Steigerung der Wollproduction wieder eintreten wird. Die durch die überseeische Concurrenz herbeigeführte Verbilligung des Wollpreises begünstigte jedenfalls auch die Ent­wickelung der Gross-Industrie, welche insbesondere bei der Massenproduction an den niedrigeren Preisen profitirte.

Bis zum Jahre 1878 gelang es den stark reducirten Betrieben der Woll-Industrie, die kritischen Zeiten dadurch zu überstehen, dass der geminderten Kaufkraft der Consumenten durch möglichst niedrige Preise entgegengekommen wurde, welche durch die Ausnützung der Wollconjuncturen, durch eine rasche Fortentwickelung der technischen Einrichtungen und durch die immer mehr gesteigerte Aufnahme der Er­zeugung von Surrogat-Artikeln ermöglicht wurden.

Man begnügte sich mit dem geringsten Verdienst, und suchte den Ersatz in der Quantität der erzeugten Waare.

Im Jahre 1878 wurde mit der unheilvollen Handelspolitik der englischen Nachtrags-Convention gebrochen und ein mässiger Schutzzoll der Schafwollwaaren-Industrie eingeräumt. Seit dem Jahre 1875 wurde in Brünn die in Lisieux heimische Erzeugung von gedruckten Halbwollstoffen für die Herrenmode zunächst von drei Etablissements aufgenommen. Damit wurde dem Massenconsum ein neuer Artikel zugeführt, der bald in grossem Maasse Aufnahme fand, bis einerseits die überhand nehmende Concurrenz auch hier Einhalt gebot und anderseits der Geschmack des Publicums von diesem Artikel sich abwendete und den neuen Bahnen folgte, zu welchen der letzte bedeutende Umschwung der Production, die Aufnahme der Mode-Kammgarnwaaren'-Erzeugung führen sollte.

Auf der Pariser Weltausstellung im Jahre 1878 waren die Fortschritte, welche die Kammgarnweberei Frankreichs und insbesondere Englands gemacht hatte, ersichtlich zu Tage getreten. In Oesterreich wurde zunächst auf dem Brünner Platze die Kammgarn-Mode eingeführt, die bald führend wurde und die bisher die Specialität Brünns bildende Streichgarn-Modewaare immer mehr verdrängte. Es gelang dem Brünner Platze in der Kammgarnmode-Fabrication durch den Geschmack und die Vollendung der Ausführung bald die Ebenbürtigkeit mit dem ausländischen Wettbewerbe zu erreichen und sich in erster Stelle zu behaupten.

Dieser starke Aufschwung der Kammgarnwaaren-Erzeugung hatte auch seine Rückwirkung auf die Entwickelung der Kammgarn-Spinnereien, welche im Allgemeinen Decennien hindurch eine stationäre ge­blieben war. Die Zunahme der Spindelzahl der Kammgarn-Spinnereien von 77.410 im Jahre 1875 und 94.270 im Jahre 1880 auf 172.000 im Jahre 1885 und 288.318 im Jahre 1891, welcher wohl in den letzten Jahren eine weitere namhafte Vermehrung gefolgt ist, kennzeichnet diese Entwickelung der Kamm­garn-Industrie, während anderseits der Niedergang der Streichgarnwaaren-Industrie namentlich in dem Rückgänge der Streichgarn-Spinnereien sich kennzeichnet, welche im Verlaufe des Zeitraumes 1880 bis 1885 eine Verminderung um 799 Pferdekräfte und bezüglich des Productionswerthes um 7-2 Millionen Gulden erlitt. Die starke Aufnahme der Kammgarnmodewaaren-Erzeugung, die wohl zunächst in Brünn erfolgte, aber bald auch in Reichenberg und den gesammten nordböhmischen Productionsgebieten, sowie später auch in Bielitz eine immer mehr steigende Massenaufnahme fand, hatte auch zur Folge, dass der mechanische Webstuhl in der Schafwollwaaren-Industrie immer mehr Boden eroberte und dass der klein­meisterliche Betrieb, obwohl er sich in Reichenberg noch fähig erhalten hatte, am Mitbewerbe theilzunehmen, immer mehr an Boden verlor. In Reichenberg verdrängte die Ivammgarnmodewaare die Erzeugung der glatten Tücher, deren Production Brünn schon früher nahezu vollständig an Reichenberg überlassen hatte, wie auch die Erzeugung von Officiers- und Egalisirungstuchen von Brünn bis auf verschwindende Aus­nahmen an Reichenberg übergegangen war.

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