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Die Groß-Industrie Oesterreichs : Festgabe zum glorreichen fünfzigjährigen Regierungs-Jubiläum seiner Majestät des Kaisers Franz Josef I. dargebracht von den Industriellen Österreichs 1898 ; Vierter Band
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das russische Girardowo verdankt seine moderne Grösse in der Leinenmanufactur einer alt-österreichischen Firma, Fliehe & Dittrich, welche in Schönlinde in Böhmen noch heute eine Zweigniederlassung besitzt.

In Oesterreich selbst sollte diesen ersten Versuchen bald ein endgiltig entscheidender Schritt folgen, als der Altmeister der österreichischen Flachsspinnerei, Johann Faltis aus Wolsdorf bei Trautenau, nach einem kürzeren Versuche in Pottendorf bei Wien 1835, zuerst in Jungbuch bei Trautenau, dann in einer grösseren Zahl von Fabriken im Trautenauer Gebiete die mechanische Flachsspinnerei ursprünglich mit primitiven, hölzernen, dann mit den vollkommensten englischen Maschinen einführte und zur Blüthe brachte. Er gab damit das Vorbild für die grosse Flachsspinnerei Oesterreichs, welche sich kurz nach dem Baue seiner ersten Fabrik in Jungbuch zu entwickeln begann und bis in den Beginn der Siebzigerjahre sich stetiger Vermehrung erfreute, um dann freilich wieder abzunehmen. Aber vom Anbeginn war seine Firma, die seit seinem Tode 1874 unter dem Namen Johann Faltis Erben besteht, die weitaus bedeutendste sämmtlicher österreichischer Flachsspinnereien.

Die Wahl Trautenaus zur Errichtung der ersten Flachsspinnerei war eine nur zu begründete. Trautenau und die umliegenden Gebiete und Märkte, deren Centrum es bildet, sind uralte Stätten des Flachsbaues, einstens noch der Hausspinnerei, aber noch gegenwärtig der Hausweberei der durch Klima und Bodenverhältnisse nur stiefmütterlich bedachten Landwirthe. Die Stadt Trautenau selbst aber ist seit mehr als einem Jahrhundert einer der bedeutendsten Leinenhandelsplätze der Monarchie, der sich besonders zur Zeit der Dreissigerjahre zu einer grossen Blüthe erhoben hatte. Damals war es der freie Rohleinen­verkehr nach Deutschland, insbesondere Schlesien, für welchen zum Abschlüsse ihrer Geschäfte sich zahl­reiche Kaufleute aus aller Herren Länder in Trautenau zusammenfanden. Seit dem Verfalle des eieentlichen Leinwandhandelsmarktes war es ein Glück, dass durch die Begründung der mechanischen Flachsspinnerei der Garnhandel die sich verlierende Bedeutung einigermaassen ersetzen konnte. So ist denn heute Trautenau, im Centrum einer Flachsspindelzahl von mehr als 200.000 oder von zwei Dritttheilen der ganzen Flachs­spindeln Oesterreichs, auch der bedeutendste Flachs- und Flachsgarnmarkt der Monarchie.

Eine Zeit lang, bis zum Jahre 1879, wo die Aufhebung des Rohleinenverkehres nach Schlesien der Stadt nicht allein, sondern auch dem ganzen Leinwandhandel Nordböhmens und Mährens eine bis heute nicht geheilte schwere Wunde geschlagen hatte, dauerte die Periode des höchsten Glanzes des Trautenauer Marktes, wo der Leinwandhandel mit dem Flachs- und Garnhandel vereint eine grosse Zahl ausländischer Kaufleute regelmässig nach der Leinenstadt des Riesengebirges brachte. Diese Zusammenkünfte gestalteten sich allmählich zu einer Art Leinwandbörse aus, von der man schon seit dem vorigen Jahr­hundert sprechen kann. Noch heute besteht das Haus und der Saal jener dadurch historisch gewordenen Restauration, wo schon im vorigen Jahrhundert diese Leinwandbörse, später die Leinengarnbörse bis zum Jahre 1896 tagte, bis sie Raummangels halber in das »Weisse Ross« verlegt wurde. Nachdem nämlich schon seit den Fünfzigerjahren der Garnhandel der mechanischen Spinnereien einen immer bedeu­tenderen und seit 1879 clen nahezu alleinigen Antheil an dem Marktverkehr gewonnen hatte, begannen diese Vereinigungen die festere Gestalt eines förmlichen Vereines anzunehmen, welcher unter dem Titel »Trautenauer Garnbörse« den »Montag« zum festen Markt-Wochentag bestimmte und auch seit 1864 eigene Präsidenten wählte.

Seit 1875 liegen der »Trautenauer Garnbörse« förmliche Satzungen zu Grunde, welche sich die Aufgabe stellten, auch "über den Rahmen eines blossen Handelsverkehres hinauszugehen und durch Be­rathungen und Begutachtungen die allgemeinen Interessen der Industrie zu fördern.

Unter diesem Gesichtspunkte sind der »Garnbörse« auch zwei bleibende Institutionen zu danken; denn erstlich hat sie sich an der Begründung der deutschen Ackerbau- und Flachsbauschule in Trautenau im Jahre 1887 und deren Erhaltung durch ihre Initiative betheiligt. Dann aber steht die wichtige Veranstaltung des grossen Flachsmarktes von Trautenau seit 1877 unter deren directem Ein­flüsse. Dieser internationale Jahresmarkt, der alljährlich Mitte December (im grossen Augartensaale) abgehalten wird, ist gewissermaassen der Beginn der Flachs-Ankaufsaison auf Grund der neuen Flachs­ernte und folgt stets als letztes Glied der Kette den beiden anderen grossen schlesischen Flachsmärkten von Konstadt und Breslau, deren Termine von zwei zu zwei Tagen auseinander liegen. An den Tagen seiner Abhaltung vereinigt die sonst ruhige Stadt Trautenau Gäste in grosser Zahl aus ganz Europa, vor Allem aber aus Deutschland, Russland, Holland und Belgien, die die Muster aller flachsproducirenden Länder nach dem Hauptconsumgebiet des Flachses in Oesterreich, nach Trautenau bringen.

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