Nachsticken (Nachbessern der gestickten Waare), einzelne Krankheitstage, dagegen theures farbiges Garn, Retourwaaren, Maschinenreparaturen, endlich die Abzüge, die jederzeit einen Gegenstand der lebhaftesten, zum Theile auch berechtigten Beschwerden der Sticker gegen die St. Gallener Kaufleute gebildet haben.

Dass es auch an sonstigen zahlreichen Beschwerden der Vorarlberger Sticker gegen die Schweizer Arbeitgeber nicht gefehlt hat, ist bei dem Charakter der vorarlbergischen Stickerei-Industrie als Lohn- Industrie der Schweiz sehr begreiflich. Am heftigsten traten diese Klagen naturgemäss immer in krisen­haften Zeiten auf, und insbesondere im Jahre 1892 verschärften sich die zwischen Vorarlberg und der Schweiz bestehenden Differenzen zu einer ernsten Spaltung. Die Schweizer warfen den Vorarlbergern vor, dass sie die Minimallöhne des Verbandes der Stickerei-Industrie der Ostschweiz und Vorarlbergs nicht einhielten, worauf diese antworteten, dass die Schweizer Kaufleute Vorarlberg weitaus schlechter be­handelten als die Schweizer Sticker, welche die besser rentirende Waare erhalten. Adel geklagt wurde ausser über das Abzugswesen über die Musterverschlechterung, beide Theile warfen sich geschäftliche Cor- ruption vor und schliesslich traten Schwierigkeiten im Veredelungsverkehre hinzu. 1 )

Diese Differenzen, deren weiterer äusserst umständlicher Verlauf 2 ) mit dem Austritte Vorarlbergs aus dem Stickereiverbande endete, boten den Anlass zur Bildung der »Vorarlberger Stickereigenossenschaft«. Sie stellte einen Versuch dar, zunächst die Lohnverhältnisse des Einzelstickers durch Participation an dem Gewinne der Genossenschaft, welche ein grosser Fabrikant sein sollte, zu verbessern und dann wohl auch die Unabhängigkeit Vorarlbergs von der Schweizer Veredelungsbranche anzubahnen.

Die Genossenschaft schien Anfangs zu prosperiren, binnen kurzer Zeit waren ihr die Besitzer von über 1000 Maschinen beigetreten, allein die hochgespannten Erwartungen, die an diese Organisation ge­knüpft wurden, haben sich nicht erfüllt. Von Anfang an krankte die Genossenschaft daran, dass sie bei der Zurückhaltung des übrigen vorarlbergischen Capitales darauf angewiesen war, ihr Betriebscapital von einer bestimmten Seite zu nehmen, die ihr später viele Schwierigkeiten verursacht hat. Auch der Grundsatz, niedrige Löhne zu bezahlen, dafür aber keine Abzüge zu machen, bewährte sich nicht, übte vielmehr eine ungünstige Wirkung auf den Anschluss tüchtiger Sticker an die Genossenschaft, so dass schon im zweiten Jahre die Hälfte der Mitglieder wieder austrat. Heute ist die Genossenschaft verschwunden. Die Kündigung des Capitales, welche ihr Geldgeber in einem kritischen Augenblicke vollzog, zwang die Genossenschaft nach einem Processe über die Abzahlungstermine, der übrigens zu ihren Gunsten ausfiel, zur Liquidation.

Damit war der interessante, an sich gesunde, aber mit unzureichenden Mitteln und zu sehr unter dem Einflüsse eines Creditgebers unternommene Versuch gescheitert.

Eine weit bemerkenswerthere Organisation war der schon erwähnte Centralverband der Ostschweiz und Vorarlbergs. Wir müssen uns hier darauf beschränken, in grossen Zügen seinen Zweck und seine Wirksamkeit anzudeuten, er würde es aber als eine socialpolitisch höchst bedeutungsvolle Erscheinung verdienen, sich ein­gehender mit ihm zu beschäftigen, wie dies übrigens schon von ausgezeichnet informirter Seite geschehen ist.s)

Der Centralverband verdankte seine Entstehung der Krise, welche auf das Jahr 1882 folgte, das zu der glänzendsten Zeit der Stickerei-Industrie zählte, in der ein wahrer Stickertaumel das ganze Gebiet ergriff und Hunderte ihre gewohnte Beschäftigung verliessen, um mit ihren Ersparnissen, oder wenn sie solche nicht hatten, auf Raten eine Maschine anzuschaffen.

Allein schon 1883 liess die Aufnahmsfähigkeit namentlich des amerikanischen Marktes ausserordentlich nach, während durch die inzwischen eingetretene Ueberproduction die Lager entwerthet wurden und die Preise immer tiefer sanken. Der Zustand schien auf die Dauer unerträglich zu sein, als von der Schweiz die Anregung zur Schaffung des Verbandes ausgieng. Sein Zweck war in erster Linie, der »Ueberproduction vorzubeugen, andererseits bessere Lohnverhältnisse zu erzielen und im Allgemeinen durch alle zweck­dienlichen Maassnahmen an der Hebung der Stickerei-Industrie und der Erhaltung derselben auf gesunder Basis mitzuarbeiten«.

Man muss gerechterweise sagen, dass der Verband diese seine Aufgabe durch eine Reihe von Jahren unter schwierigen Verhältnissen erfüllt hat. Er umfasste alle Interessenten der Stickerei, mit Ausnahme der Fabriksticker, welche erst später in einen losen Zusammenhang mit ihm gebracht wurden. Was diese Or-

') Siehe den Aufsatz des Verfassers »Eine Stickereikrise in Vorarlberg«. Handelsmuseum 1892.

) Siehe Dr. Alfred Swaine, »Die Arbeits- und Wirthschafisverhältnisse der Einzelsticker in der Nordschvveiz und Vorarlberg«. Strassburg 1895, S. 106 ff.

3 ) Siehe insbesondere Georg Baumberger, »Geschichte des Centralverbandes der Stickerei-Industrie der Ostschweiz und Vor­arlbergs«. St. Gallen 1891, und auch Swaine, a. a. O.