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Die Groß-Industrie Oesterreichs : Festgabe zum glorreichen fünfzigjährigen Regierungs-Jubiläum seiner Majestät des Kaisers Franz Josef I. dargebracht von den Industriellen Österreichs 1898 ; Vierter Band
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ganisation so bemerkenswerth macht, ist einerseits der Umstand, dass er die Regelung der Verhältnisse einer eminenten Haus-Industrie anstrebte, und zwar mit Maassregeln, die so energisch genannt werden müssen, dass sie sonst bei freier Vereinbarung in einer Haus-Industrie überhaupt gar nicht oder bestenfalls durch staatliche Autorität durchgeführt werden könnten. Wir nennen hier nur die Festsetzung von Minimal­löhnen, die Einführung des Normalarbeitstages von 11 Stunden, das Regulativ über das Lehrlingswesen, das Regulativ über das Abzugswesen, das Stichzählungsregulativ, die Vorschriften über den Verbands­verkehr, das Regulativ über die Provision des Ferggers etc. Die einzigen Strafen, über die der Verband verfügte, wenn seine Vorschriften, deren Einhaltung durch eigene Inspectoren controlirt wurde, nicht befolgt wurden, waren Geldbussen und der Ausschluss. Der letztere bedeutete aber auch gleichzeitig den Boycott des Ausgeschlossenen, der überaus streng gehandhabt wurde. Kein Fabrikant, kein Kaufmann, kein Fergger, kein Einzelsticker, mit einem Worte kein an der Stickerei-Industrie irgendwie Betheiligter arbeitete mit einem solchen, den Beschlüssen des Verbandes Ungehorsamen. Ja, der Druck, welcher durch dieses stramme Zusammenhalten auf den Einzelnen ausgeübt wurde, wurde in mehreren Fällen auch nach der umgekehrten Richtung verwendet, um nämlich widerspenstige Exporteure in den Verband hinein zu boycottiren.

Der Verband hat, wie gesagt, viel Gutes geleistet. Der Maximalarbeitstag hat der Ueberproduction ein Ziel gesetzt und die ungemessene Arbeitszeit in der hausindustriellen Stickerei-Industrie beschränkt. Das Stichzählungs-Regulativ und die-Vorschriften über die Abzüge und Retouren haben den Arbeiter dem Drucke des Fabrikanten entzogen. Der Minimallohn hat freilich auch seine Nachtheile gezeitigt; er ist rasch, wie überall, zum Normallohn geworden, auch zu Zeiten steigender Tendenz des Waarenmarktes, und hat dadurch dem Sticker die Möglichkeit höheren Verdienstes entzogen, allein er hat auch der Schleuderconcurrenz bis zu einem gewissen Grade Halt geboten und war für den anständigen Fabrikanten zur festen Unterlage seiner Calculation geworden.

Wie der Verband aus einer Krise entstanden war, so ist er auch an einer Krise zu Grunde eesraneen. Die Mac Kinley-Bill hatte im October 1890 eine Ueberfluthung des Marktes mit Waare gebracht, da jeder Importeur noch vor Inslebentreten des neuen amerikanischen Zollgesetzes sich hinreichend mit Waare ver­sorgen wollte. Die Folge davon war ein ausserordentliches Nachlassen der schweizerischen Stickereiausfuhr nach Nordamerika im Jahre 1891; dieselbe gieng damals um 10V2 Millionen Franken zurück. Von dieser Krise war insbesondere Vorarlberg schwer getroffen. Die Vorwürfe, welche wir schon angedeutet haben, traten in verstärktem Maasse auf, und die nicht eben geschickte Haltung der Verbandsleitung gegenüber den Vor­arlbergern that das Ihrige dazu. Ende 1891 traten 944 Vorarlberger mit 1376 Maschinen aus, und der Rück­schlag dieses Ereignisses auf die Ostschweiz stellte sich sofort ein. Die Vorarlberger, die nicht mehr an Minimallöhne gebunden waren, arbeiteten zu allerdings sehr niedrigen Löhnen, aber sie hatten doch Arbeit. Die unmittelbare Folge davon war das Aufgeben des Minimallohnes und der Musterclassification auch für die Ostschweiz, womit zwei Ecksteine aus dem Gebäude gebrochen waren. Am 1. Mai 1892 fand eine Ur­abstimmung über den Bestand des Verbandes statt, und wenn auch die Mehrheit, welche sich für denselben erklärte, relativ gross war, so war er doch nicht mehr zu halten. Auf Ende 1892 kündigten 2884 Firmen und Arbeitsnehmer ihren Austritt an, und trotz der verschiedensten Maassregeln, welche ergriffen wurden, um sie zum Verbleiben zu bewegen, war es um den Verband geschehen. Seit Ende 1892 hat er keine Bezie­hungen mehr zu Vorarlberg und führt auch in der Ostschweiz nur mehr ein Schattendasein.

Nach wie vor ist aber, wie wir schon Eingangs bemerkt haben, die Vorarlberger Stickerei-Industrie der Hauptsache nach Lohn-Industrie der Schweiz, und ist daher ihre ganze geschäftliche Situation im innigsten Zusammenhänge mit jener der Ostschweiz. Die Lohnsumme, die Vorarlberg von der Schweiz heute bezieht, dürfte mit 56 Millionen Franken brutto nicht zu hoch gegriffen sein, während das Quantum Gewebe, welches die Schweiz in Vorarlberg besticken lässt, sich auf über 9000 Metercentner (1896) berechnet.

Die Qualität der Waare, die in Vorarlberg vorzugsweise gearbeitet wird, geht im Allgemeinen bis zur Mittelfeinheit. Es wäre ungerechtfertigt, in diesen mittelfeinen Qualitäten einen Unterschied zwischen Schweizer und Vorarlberger Stickerei machen zu wollen. Sie wird auch durchwegs als Schweizer Stickerei in den Handel gebracht, und mancher, der glaubt, Schweizer Stickerei nach Hause zu tragen, hat ein Fabrikat erworben, das gut österreichischen Ursprungs und an dem nichts anderes schweizerisch ist, als die Vollendungsarbeiten, die Bleiche, Appretur und Adjustirung. Mit voller Anerkennung muss aber hier darauf hingewiesen werden, dass sich namentlich in den letzten Jahren eine Reihe von tüchtigen und intelligenten Fabrikanten in Vorarlberg gefunden hat,welche trotz ausserordentlicher

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