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Die Groß-Industrie Oesterreichs : Festgabe zum glorreichen fünfzigjährigen Regierungs-Jubiläum seiner Majestät des Kaisers Franz Josef I. dargebracht von den Industriellen Österreichs 1898 ; Erster Band
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das Telephon, das Fahrrad, die chemische Industrie! In den elektrischen Betrieben Europas fanden mehrere Millionen Menschen (die Angehörigen einbezogen) ein Unterkommen. Dabei wird sich in der Regel der moderne Arbeiter besser befinden als der Geselle und der Klein­meister der alten Zünfte. Die kühle geschichtliche Forschung kommt hier zu einem anderen Urtheile als die verklärende Romantik oder die Agitation der Leidenschaft. Und wären etwa die alten Zünfte im Stande gewesen, der auf den auswärtigen Märkten durch überlegene Con- currenz fremder Welttheile bedrängten Landwirthschaft der Monarchie einen sicheren inneren

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Markt zu bieten, einen Theil der Steuerlast der Landwirthschaft auf sich zu übernehmen und gleichzeitig zwei Drittheile der österreichischen Staatscasse zu füllen, wie es die moderne Industrie thut?

Bei Beurtheilung wirtschaftlicher und socialer Zustände vergisst man nur allzu oft, dass die Armuth unsere Mutter war. Noth, Elend und Krieg standen an der Wiege der Mensch­heit, und die Zeiten friedlichen Gedeihens wurden als seltene Beglückung empfunden. Des­halb blieb auch die Bevölkerungszahl zuweilen durch mehrere Jahrhunderte stehend oder hatte nur eine geringe Zunahme. Man denke, was das heissen will! Oft erfolgten Rückgänge. Nach Tai ne ging noch im Jahre 1715 in Frankreich an Hunger, Steuerdruck und Elend ein Drittheil der ganzen Bevölkerung, nämlich 6 Millionen Menschen, zu Grunde, und kurz vor der Revolution von 1789 antwortete ein Bischof dem Könige Ludwig XVI.: «Die Men­schen essen Gras wie die Schafe und sterben wie die Fliegen.» Begründet ist daher der Aus­spruch eines scharfen Beobachters: «Die Gegenwart weiss nichts mehr von der Vergangenheit, ja sie will davon nichts wissen; die thatsächliche Besserung aller Verhältnisse wird den meisten Menschen so sauer, dass sie sich nur durch allgemeine Unzufriedenheit dagegen wehren können.»

Wer vor hundert, ja vor fünfzig Jahren das Aufhören aller Ehebeschränkungen und die riesige Zunahme der Bevölkerung, wie sie in der Gegenwart stattfindet, vorausgesagt hätte, wäre verlacht worden. Den Grund und Boden Oesterreichs kann man nicht vermehren, die Landwirthschaft lässt sich daher schwer ausdehnen, aber sie erzeugt zahlreichen Nachwuchs. Wohin damit? Nun wohl, alle diese heranfluthenden Menschenmassen nimmt, mit Entlastung von Staat und Gemeinde, die Industrie auf, erzieht sie zu regelmässiger Arbeit, zahlt ihnen jährlich 350 Millionen Gulden Lohn, gewährt ihnen in Krankheitsfällen Beihilfe, entschädigt sie bei Unfällen, disciplinirt sie und macht sie zu nützlichen Mitgliedern der grossen bürgerlichen Gesellschaft. 1 ) Dass dabei noch Leid und Mangel genug übrig bleiben, dass wir Alle an der Verbesserung der Lage der arbeitenden Classen weiter wirken sollen und wirken werden, wer möchte das in Abrede stellen? Aber schon sieht man ein Ziel. Schon hat man festen Boden unter den Füssen. Schon sind die Declamationen von zunehmendem Elende durch die Thatsachen widerlegt. Prüfen wir einige!

In England betrug die Arbeitszeit in der Woche von sechs Tagen

in dem Jahre 1840.69 Stunden,

« « « 1873.60 « ,

« « « 1878.56 « ,

« « « 1897.54 «

9 Nach Erhebungen von Inama-Sternegg befanden sich unter ioo Bedürftigen, welche den «Verein gegen Verarmung und Bettelei» in Wien um Unterstützung angingen, nur r3 Procent Fabriksarbeiter, eine Thatsache, die sowohl der Arbeiterschaft wie der Industrie zu hoher Ehre gereicht, und wodurch die in Wien sehr verbreitete oberflächliche Auffassung, als ob die städtischen Armen überwiegend der industriellen Arbeiterschaft angehörten, auf das Gründlichste widerlegt wird.

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