Die Nilreise bis nach Theben. 129
und Cypressen und dann über Durrah- und Ricinusfelder nach dem Saume der Wüste. Schon aus der Ferne gewahrt man die mächtige Pforte des Heiligthums, die zum Theil in Sand und Schutt begraben ist und links nur noch eine Ecke ihres Gesimses oben hat. Durch sie hindurch gehend steht man vor dem Tempel selbst, der unter der Stimkante seines Daches und zwischen den leicht pyramidal geneigten Seitenwänden seine Vorhalle öffnet. Man steigt jetzt auf einer Treppe von zwanzig Stufen tief wie in einen Keller hinab und befindet sich im Dämmerlicht der imposantesten Halle, die sechs Säulen in Front und vier in die Tiefe, somit im Ganzen vier und zwanzig hat. Aus dem Kapital dieser Säulen, die 00 Fuss hoch sind, 8 Fuss im 'Durchmesser haben und auf einer Fläche von 100 Fuss Länge und 70 Fuss Breite zusammenstehen, blickt nach allen vier Seiten das Antlitz der Hathor. der Göttin der Unterwelt, welcher der Tempel geweiht war, inedusenhaft ruhig aus seinem Kopftuche herab. Sie hat Kuhohren, eine Erinnerung an das Thier, das ihr geheiligt war. Auf dem Haupte trägt sie als symbolischen Schmuck eine Tempelpforte, den Eingang zur Unterwelt. Die Rundung der Säule und alle Wände sind mit feinbemalter Sculptur wie mit Stickerei überkleidet. Von dieser Runde hebt sich das fast quadratische Kapital mit scharfen Schatten ab, da die Ecken, das überhängende Kopftuch der Göttin, nach unten scharf abgeschnitten sind. An den Basen der Säulen springen die Blätter des heiligen Lotos hervor, und die dunkelblaue Decke ist mit Sternen besät.
Hinter diesen offenen Vorhallen folgt ein innerer Tempelraum mit noch dunkleren Seitenkammern und endlich das isolirte, ganz dunkle Allerheiligste. Die tiefen Gänge um das letztere, die man mit Kerzen und Fackeln durchkriecht, sind alle mit Sculpturen bedeckt. Auf dem in Stufen abnehmenden Dache, welches man auf einer Treppe in einem der Seitenräume zur Rechten erreicht, findet man zu hinterst auf der einen Ecke einen kleinen Säulentempel der Hathor.
Man hat bisher geglaubt, dass die Vorhalle des Tempels von dem Kaiser Tiberius errichtet worden sei. Das ist ein Irrthum. Allerdings erscheint dieser Imperator sowie seine Nachfolger Caligula, Claudius und Nero vor der Gottheit dieses Heiligthums opfernd in verschiedenen Feldern der Wandsculpturen. Die Namensringe sind beigegeben. Dies will aber nichts weiter sagen, als dass unter der Regierung dieser Imperatoren die Vorhalle erbaut oder der Schmuck ihrer Mauern vollendet wurde. Es ist also nichts mehr und nichts weniger als eine Datumsangabe in altägyptischem Style, in dem der ganze Tempel, obwohl er einer sehr späten Zeit angehört, gehalten ist. Die Vorhalle gehört dem Style an, in welchem der Sarkophag des Myke- rinos aus der dritten Pyramide ausgeführt wurde. Es ist dasselbe Verhältnis der Breite zur Höhe, dieselbe pyramidale Neigung der Seitenwände, dasselbe nach Oben abschliessende Hohlrundgesims, derselbe Rundstab, der jenes Hohlgesims von dem Arcliitravoder dem
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