5. Negrelli in Wien
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oder andere Umstände ein siegreiches Vorrecht einräumten. Das Verhältnis des jungen Praktikanten zu seinem Baudirektor war viel tiefer, freundschaftlicher, als dies sonst bei so weitem amtlichen Abstande der Diätenklassen üblich ist. Privatbriefe Reisach’s an Negrelli atmen väterliches Wohlwollen, herzliches Vertrauen. Graf Reisach freute sich des Diensteifers, des Pflichtgefühls Negrelli’s; er schätzte den jungen Mann wegen seines ehrenhaften Charakters, wegen seines vornehmen Auftretens, wohl auch wegen seiner tiefen Religiosität. Negrelli setzte große Ehre darein, von Allen, mit denen er in Berührung kam, geachtet und geschätzt zu werden; das verlieh seinem ganzen Wesen etwas Einnehmendes und Fesselndes ...
Um zu verstehen, daß eine solche Persönlichkeit, auch wenn sie nicht wie Negrelli sich eines angesehenen Namens erfreut hätte, bei den leitenden Männern, bei Graf Reisach, bei Duile Wertschätzung und weit über berufliches Interesse hinausgehende Förderung fand — um dies zu verstehen, muß man sich an die Verhältnisse erinnern, die damals im Beamtenkörper speziell im technischen vorherrschten. Ich habe schon bezüglich der fachlichen Bildung und der finanziellen Verhältnisse Näheres angeführt; ich habe auch bemerkt, daß die Verwaltung sehr im Argen lag. Es ist begreiflich, daß der neue Kurs, den die Verwaltung unter Chotek und Reisach einschlug, viel Unzufriedenheit erregte; man hatte sich ja allenthalben an den Schlendrian, an die Gleichgiltigkeit, an „gemütliche“ Arbeit gewöhnt. Der neue Kurs richtete sich auch gegen die Parteilichkeit und Bestechlichkeit der exponierten Organe in Straßenangelegenheiten, bei Umbauten, Neubauten und Erhaltung. Aus vielen kurzen Bemerkungen Negrellis in seinen Tagebüchern