Theben
136
ist, wo der eine Löwe sich bereits unter dem Rade des darüber hinwegrollenden Wagens wälzt, während der zweite, im Rücken getroffen, noch einen Satz nach vorwärts thnt, der König selbst aber auf dem Wagen sich mit dem Speere nach hinten wendet, um einem dritten von hier heranspringenden zu begegnen?
Wo die Vornehmen ihre Häuser hatten, denken wir uns die Stadt weniger hoch und mit zahlreichen Gärten untermischt. Bekannt ist der ägyptische Garten mit der Weinlaube in der Mitte oder mit leichten Säulengängen, welche das Rebengeflocht tragen, mit seinen Alleen, worin der hohe Federschwung der Dattelpalme mit der dickköpfigen fächerartig belaubten Dumpalme wechselt, mit dem lotosbewachsenen Fischteich, mit den grossartigen Eingangspforten ägyptischen Styls. Die Villa selbst öffnet die Gemächer ihres Innern in die Säulengänge eines Hofes, der gleichfalls mit Bäumen besetzt ist. Diese Gemächer leuchten natürlich nicht minder von den Farben, die in genialen Mustern von Ornamenten von den Wänden der Gräber zu sammeln sind.
Vielleicht feiern sie eben ein Fest, wo man den Gästen Kränze und Kragen von Lotosblütlien um den Hals legt und noch die Lotosblume in die Hand reicht. Ein weibliches Musikchor lässt Guitarre und Doppelpfeife, Harfe und Tamburin erklingen, singt fröhliche Lieder und begleitet sie mit Händeklatschen — eine Race, die in den Almelis und Gliawazis von Oberägypten noch heute das alte Spiel fortspielt. Machen die vornehmen Gäste nach dem Schmause ein Spielchen, so ist es nicht die gemeine Mora, sondern ein Bretspiel mit weissen und schwarzen Figuren, wie es König Ramses nach den uns aufbewahrten Bildwerken mit seinen Töchtern zu spielen pflegte.
Alles recht, aber wenn die Mundschenkin ihrem wunderbar einfachen Costüme uns selber eine Trinkschale mit Wein reichte, so würden wir betreten vom Kosten ablassen. Der Wein ist mit Harz versetzt. wie noch jetzt bei den Griechen, die dies aus Aegypten haben. Man findet noch den Harzniederschlag in den altägyptischen Weinkrügen, die man in den Ruinen der Stadt sammelte.
Ehe wir nun zur Betrachtung der Denkmäler Thebens selbst gehen, bedarf es noch eines vorbereitenden Wortes über die Natur der altägyptischen Kunst, und hier lassen wir Braun in seiner Kunstgeschichte, der auch im Vorigen einzelne Sätze entlehnt wurden, reden. Der Laie wird dadurch von vornherein vor falschen Urtlieilen bewahrt.
„Es braucht natürlich ein geübtes Auge, um innerhalb des ägyptischen Styls Zeiten des Aufschwungs (wie in Theben) und Zeiten des Verfalls zu unterscheiden. Es gibt Welche, die beides gleich hässlich finden. Um aber die ägyptische Kunst zu verstehen, müssen wir so lang mit ihren Gebilden umgehen, bis wir jeden Blick darüber hinaus aufzugeben im Stande sind. Einen fertigen Zollstab der Schönheit, an dem die ganze ägyptische Kunst zu messen wäre, dürfen wir am Wenigsten mitbringen. Wenn wir dann aber einmal gewohnt sind, innerhalb dieser Formen und Formeln zu denken, innerhalb des Oha-