jederzeit wenigstens einen casum specificum und, wenn ihnen deren mehrere bekannt sind, sämmtliche anzuführen.» 1 )

Der Kaiser begnügte sich aber damit nicht. Noch im October 1771 eilte er selbst wieder nach Böhmen, mit eigenen Augen zu sehen und wenn möglich zu helfen. Er sah mehr, als er besorgt haben mochte. Zu den bisherigen traurigen Verhältnissen war eine schreckliche Hungersnoth in Folge totaler Misernte getreten. Er referirte an die Kaiserin mit einer Ausführlichkeit und Gründlichkeit, zugleich aber mit einer Offenheit und Freimüthigkeit, wie sie bis dahin unter Monarchen wohl unerhört gewesen. Wieder ist uns jleider versagt, auf Details einzugehen.

Das Bild, das er entwarf, konnte kein erhebendes sein; auch nicht in Angelegenheit der Industrie, deren Verhältnisse eingehend an der Hand sorgfältiger, an Ort und Stelle ein­geholter Informationen dargestellt wurden. Die kaiserlichen wie die Privatbeamten des Landes müssen sich manches scharfe Wort gefallen lassen. Immer wieder kommt der Berichterstatter auf die grosse Masse des Volkes zurück; bis zur Hefe dieses Volkes steigt er nieder, zum «Pöbel», dessen Wohl und Wehe nach seinem guten Wissen Auf- und Niedergang nicht nur aller Industrie, auch des Staates selbst bedingen. «Der Pöbel» aber, erklärt Joseph II., «lebt in der grössten Ignoranz; die Bürger und viele sich für fromme Seelen Ausgebende werden in einer recht abgeschmackten und der Religion zum Abbruch und zum Gespött dienenden superstitiosen Frömmigkeit durch die in den Städten überhäufte .. . Geistlichkeit erhalten, welche ihnen . . . immer zu kleinen Andächteleien die Gelegenheit geben.»

Das Uebel an der Wurzel fassend, geisselt der Kaiser die Entartung der damaligen Geistlichkeit, deren unwürdige Vertreter er bis auf die von ihnen so häufig misbrauchte Kanzel verfolgt. Wie kann man solchen Leuten, ruft er aus, wie sie der Mehrzahl nach sich geben, das vornehmste Staatsgeschäft die Erziehung des Volkes anvertrauen! Und doch! «Von ihnen allein ist die Grundlage der Bildung der Nation zu hoffen. Verfehlen wir sie,» fährt er fort, «oder will man in diesen Theil (der vorzuschlagenden Reformen) nicht eingehen, so ist Alles umsonst und wird man nie etwas recht Vortheilhaftes für den Staat erlangen.»

Das Alpha und Omega aller Eröffnungen an die Kaiserin bleibt: «Es gebricht haupt­sächlich an der Erziehung in allen Eurer Majestät Erblanden und an den wahren christlichen und moralischen Tugenden!» Aber noch ist nicht Alles verloren. Der Kaiser schliesst: «Vis unita fortior ist ein allerseits erkannter Satz, welcher keiner Auslegung bedarf. Unsere Monarchie ist gross, weitschichtig, von unterschiedlichen Ländern zusammengesetzt; wenn Alle vereinigt mit wahrem Herzen und Willen sich die Hände bieten, so sehe ich noch die glückseligste Folge vor mir, und ich verzweifle nicht, dass, wenn man ernstlich will und steif darauf hält, man dazu gelangen könne.» 2 )

Es wird verständlich, wer als der eigentliche, intellectuelle Urheber ebensowohl der Allgemeinen Schulordnung des Jahres 1774 wie der einheitlichen Zoll Ordnung des Jahres 1775, der Robotpatente und wie die vielen grundstürzenden Regierungsacte der letzten Jahre heissen mochten, zu betrachten ist.

Die ersten namhaften Verfügungen Josephs II. als Alleinherrschers waren das Toleranz­patent und die Aufhebung der Leibeigenschaft. Alle Nichtkatholiken in allen österreichischen Ländern erlangten mit einem Schlage volles Staatsbürgerrecht, die Freiheit

p Dr. Franz Mayer in Mittheilungen des Vereins für Geschichte der Deutschen in Böhmen .XIV (1875 1876), S. 125h

2 ) Manuscript des k. und k. Haus-, Hof- und Staatsarchivs, Wien.

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