schwänden gegenüber der grossen Unterscheidung zwischen Besitzenden und Besitzlosen. Es wäre angesichts dessen, dass die Grundtriebfeder alles menschlichen Handelns das eigene Interesse ist, unpraktische Ideologie, den Besitzenden die Wahrung ihres Interesses zu ver­denken. Wenn aber die Besitzenden die Interessen der Besitzlosen selbst dort nicht berück­sichtigen, wo sie dieselben berücksichtigen können, sei dies eine Verkennung des eigenen wohlverstandenen Interesses. Leider könne darüber kein Streit sein, dass der liberale Staat immer mehr wieder zu dem geworden ist, was er ursprünglich war, zu einem Staate der Besitzenden. Dass der Capitalismus, der immobile wie der mobile, gesündigt habe, leugne kein Vernünftiger; allein seine Sünden würden dem Liberalismus, der freien Bewegung, die er geschaffen hat, aufs Kerbholz geschnitten. Die Leidenschaftlichkeit, mit welcher der Socialismus im Liberalismus seinen Leind erblickt, gehe bis zur Verblendung, da er diesem ja das Werthvollste dankt. Viele in Schwung gekommene Anklagen des Liberalismus seien unbegründet, aber in dem herzzerreissenden Worte: «Was habe ich von der Lreiheit, wenn ich dabei eine geringere Art Mensch bin» liege Wahrheit. Mit dem «gleichen Rechte für Alle» sehe es in der That windig aus, so lange der Schwächere zu dem ihm zugesprochenen Rechte schwerer, als Andere und in manchen Lällen gar nicht kommt.

Die Erkenntnis oder wenigstens die Ahnung dessen, dass nach dem Worte Carneris, der Gesellschaft Gefahr drohe, solange Lorderungen nicht nur der Menschlichkeit, sondern der Gerechtigkeit unerfüllt bleiben, welche kein richtig fühlendes Herz unberührt lassen, beherrschten die Gesellschaft in immer steigendem Maasse. Es ist das Wehen eines anderen Geistes, der immer weitere Kreise zieht.

Es erfüllt sich Buckles Wort: «In jeder grossen Epoche wer könnte wohl unserer Zeit dies Epitheton bestreiten? ist irgend eine Idee wirksam, die mäch­tiger als alle anderen, den Ereignissen der Zeit ihre Gestalt gibt und endlich ihren Ausgang bestimmt.»

Diese die Gegenwart erfüllende und beseelende Idee tritt uns entgegen in der Erkenntnis der Nothwendigkeit der intensiven Beschäftigung mit der socialen Frage und in dem Bestreben, sie zu lösen. In kräftigster Weise äussert sich das Mitgefühl für die Ent­behrungen, für die Leiden Anderer, spricht sich die Theilnahme aus für die Bestrebungen derer, die sich die Gleichberechtigung mit den von der Gesetzgebung oder durch ererbte Anschauungen und Gewohnheiten Begünstigten zu erkämpfen suchen. Kaum jemals dürfte das mit der rücksichtslosen Ausnützung der materiellen Ueberlegenheit gesetzte Unrecht mit gleicher Schärfe empfunden und mit gleicher Strenge beurtheilt worden sein, als dies von der Gegenwart behauptet werden darf. Schonungslos werden die Schwächen und Schäden der Gesellschaft in Wort und Schrift blossgelegt, gegeisselt und bekämpft.

Es ist zuzugeben, dass es nicht immer nach Bethätigung ringender menschenfreundlicher Sinn ist, der die Streiter bewegt; unleugbar sind es auch Gründe der Klugheit oder gar schlechtweg eigennützige Motive, welche so Manchen bestimmen, dem von der Zeitströmung entfalteten Banner zu folgen; unleugbar bleibt aber die Thatsache bestehen, dass der Geist der Hilfsbereitschaft sich nie in so energischer Weise geäussert, sich nie in gleich in- und extensiver Weise bethätigt hat.

Es liegt in der Natur der Dinge, dass diese veränderten Anschauungen ihren Ausdruck in der Gesetzgebung fanden. Durch das Gesetz vom 8. März 1885, betreffend die

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