Gegen Ablauf des sechsten Jahrzehntes vollzog sich in Folge des Sieges der freiheit­lichen Principien des Liberalismus eine Wandlung der öffentlichen Verhältnisse, ein Umschwung im staatlichen Leben.

Ein Reichs-Volksschulgesetz, dessen idealer Charakter am schärfsten durch An­führung dessen gekennzeichnet wird, dass es der Durchführungs-Verordnung ermöglichte, auszusprechen: «Das Ziel aller Jugenderziehung ist ein offener, edler Charakter. Zur An­bahnung desselben hat der Lehrer auf ein wahrhaft sittliches Verhalten der Jugend, auf Pflicht- und Ehrgefühl, auf Gemeinsinn, Menschenfreundlichkeit und Vaterlandsliebe unaus­gesetzt hinzuwirken. Er ist berechtigt und verpflichtet, hierzu alle gesetzlich erlaubten und pädagogisch bewährten Mittel in Anwendung zu bringen.»

Mit dieser von edlem Wollen bereiteten Grundlage, mit dem geschaffenen grossgedachten Unterrichtsorganismus, in welchem selbstverständlich auch der unentbehrliche, die Volksschule ergänzende Fortbildungsunterricht in Aussicht genommen war, erschien eine der wesent­lichsten Bedingungen erfüllt für die Heranbildung eines besser vorgebildeten, auf eine höhere sittliche Stufe gehobenen, von einem ungleich grösseren Pflichtenmaasse beseelten Bürgerthums.

Der schon reifen Generation wurden die mächtigen Bildungsquellen erschlossen, welche der Entfesslung von Wort und Schrift und der Bewegungs- und Gestaltungsfreiheit der Gesellschaft im Wege des Vereins- und Versammlungsrechtes entspringen.

Die Hoffnungen aber auf eine tiefer reichende, die Lage und die Stellung der unteren Schichten günstig beeinflussende Wirkung, welche sich an die Verwirklichung der grossen freiheitlichen Principien knüpften, blieben leider unerfüllt. Die geschilderten, durch Ausnützung der materiellen Ueberlegenheit und durch Mangel an Rechtssinn und Billigkeitsgefühl viel­fach herbeigeführten beklagenswerthen Zustände erhielten sich nahezu unverändert. Sie fanden, nach wie vor, Ausdruck in der an vielen Orten wahrzunehmenden Verkennung des sittlichen Werthes der Arbeitskraft, in deren Herabdrückung zur Waare, in der durchschnittlichen Geringschätzung oder Nichtachtung des Arbeiters. Da die so bedeutsamen Erweiterungen der politischen Rechte nur den wirthschaftlich günstiger gestellten Classen zugute kamen, wurden die irrigerweise ausschliesslich auf die Industrie zurückgeführten, unerfreulichen Erscheinungen in noch grelleres Licht gerückt, wurden, unter dem Einflüsse der Zeitströmung allge­mach zum Gegenstand der Beobachtung und Forschung gemacht und fingen an, Ausgangs­punkt einer eigenen Literatur zu werden. Damit schärften sich natürlich die socialen Gegensätze in steigendem Maasse, traten dieselben mehr und mehr in das Bewusstsein der Arbeiterschaft und liessen dieser den Kampf gegen die vermeintliche Unnachgiebigkeit der besitzenden Classen vollberechtigt erscheinen.

Eine der Wirkungen dieses sich unaufhaltsam vollziehenden Processes war, dass die ewigen, dem Fortschritte der Menschheit dienenden Grundsätze des Liberalismus, in völliger Verkennung der Sachlage, in Verruf geriethen, dass «Liberalismus» fast zu einem Synonym von Egoismus und «Socialismus» zu seinem begrifflichen Gegensätze wurden.

Im Bestreben, 1 ) sagt B. Carneri, die politischen Rechte auszugestalten, habe der liberale Staat im Eifer des Kampfes übersehen, dass er nur für leere Abstractionen eintritt, wenn er nicht gleichzeitig durch Berücksichtigung der gegebenen Verhältnisse dafür Sorge trägt, dass die Rechte Aller auch thatsächlich für die Einzelnen sich als concrete Güter erweisen. Alle Unterschiede, welche in der staatlichen Gesellschaft sich hervorthun, ver-

J ) Liberalismus und Socialismus von B. Carneri. («Neue Freie Presse» 1891.)

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