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durchstreift, auch bei Tage äsend, behaglich gieße Strecken, kehrt aber immer wieder zu ihrem früheren Standquartiere zurück. In der Gefangenschaft dauert sie nicht aus.
Schon seit grauen Zeiten hat die vollendet schöne Gestalt und das herrliche Auge der Gazelle den Orientalen zu Gedichten Stoff gegeben. Der Araber vergleicht das Auge seiner Geliebten mit dem der Gazelle, und sie hat Ursache, ob dieses Vergleiches stolz zu sein. „Du bist so anmuthig, so schlank wie eine Gazelle", das ist die größte Schmeichelei, welche eine Araberin hören kann. Die Dichtkunst der Wüstenkinder malt auch die übrigen Eigenschaften des zarten Thieres so reizend aus, daß es der größte Genuß ist, ein Gedicht, welches die Tugenden und die volle Schönheit der Geliebten mit den Eigenschaften und dem Körperbau der Gazelle vergleicht, zu hören. Noch heute ist der Spruch des frommen Dichters, Psalm 42, 2, bei den Orientalen in Kraft; Luther's „Hirsch" ist die Gazelle; die Sehnsucht des Herzens gilt aber nicht Gott allein, sondern auch der Geliebten. —
Weit zahlreicher an Arten und Eremplaren, wenn auch noch immer sehr beschränkt, ist die ornithologische Fauna der Wüste. Die Vögel „fallen auch hier zuerst in's Auge" und zeugen durch ihre Lebendigkeit, ihre stete Beweglichkeit von Leben und Lebendigkeit in der Einöde.
„Während man stundenweit wandert, ohne auch nur Ein anderes Wirbeithier anzutreffen", sagt Tschudi von seinen Alpen, „läßt sich die heitre Welt der Vögel nie so lange vermissen. Sie sind die wahren Vertreter des überall die Welt in Besitz nehmenden Lebens, der frischen Lebenslust, der heiteren Bewegung."
So ist es auch in der Wüste. Je mannigfaltiger ihr Charakter ist, je mehr Abwechselung sie zeigt, desto reicher ist ihre Ornis an Arten und Familien. Im Osten Egyptens, wo sich die Kalkberge des Nilthales allmählig in die Sandsteingcbirge und Granitmassen der Küsten des rothen Meeres verlieren und letztere, der alpinen Gebirgswclt angehörend, sich schon bis zu 5800 pariser Fuß über den Meeresspiegel erheben, da kreist hoch in den Lüsten der gewaltige südliche Bartgeier (Evpaötos msriäionalis) — von