I. Abschnitt

Die weibliche Erwerbsthätigkeit

I. Die Notwendigkeit der Frauenarbeit

Die Frauenbewegung ist eine Erscheinung unserer Zeit. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts hat sich diese Bewegung fast in allen Kulturländern geltend gemacht; sie erstrebt für das weibliche Geschlecht eine bessere wirtschaftliche, politische und soziale Stellung. Die Ur­sachen dieser von Jahr zu Jahr wachsenden Bewegung sind haupt­sächlich in dem Drange nach lohnender Arbeit für das weibliche Geschlecht zu suchen, von dem ein grosser Teil auf Selbständigkeit an­gewiesen ist. Not und Überfluss haben Schulter an Schulter gearbeitet, die Frauenbewegung zu der Entwicklung zu bringen, in der sie jetzt unaufhaltsam durch alle Länder schreitet. Sie tritt begreiflicher­weise bei den verschiedenen Nationalitäten in abweichender Weise zu Tage, hat aber im grossen und ganzen denselben Charakter.

Die steigende Erwerbsthätigkeit der Frauen beruht auf den wirt­schaftlichen Erscheinungen, die das heutige soziale Leben umgestaltet haben. Arbeitende Frauen gab es zu allen Zeiten, und die Not­wendigkeit der Erwerbsthätigkeit der Frauen steht auch ausser Zweifel.

Neu ist nur der Umfang, den die Frauenarbeit angenommen hat, teils wegen der Zunahme der Bevölkerung, teils wegen der L T m- wälzungen auf dem wirtschaftlichen Gebiet. Neu ist auch die Heran­ziehung der Frauen aus den besseren Ständen, die früher nicht auf Erwerb angewiesen waren.

Die neuste Wandlung in der Stellung der Frauen gründet sich einerseits auf die ununterbrochen fortschreitende Erweiterung der Ver­kehr swirtschaft, insbesondere auf die wachsende Ausbreitung der Industrie und des Handels, anderseits auf die hiermit und mit dem Fort­schreiten der allgemeinen Geisteskultur zusammenhängende Steigerung des individuellen Selbstbewusstseins und des Dranges nach freier Be- thätigung. Neben die weibliche Haus- und Lohnarbeit in der Land­wirtschaft trat zuerst die hausindustrielle Arbeit für den Markt, danach

Kellen, Die Frauen im Handel und Gewerbe 1