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bedarf jener technisch und wirtschaftlich weniger entwickelten Zeit eine Entschuldigung findet, erscheint dasselbe Übel in der Gegenwart lediglich als eine Frucht der mangelhaften herrschenden Gesellschaftsordnung.

Wenn nun zw r ar ein relatives Anwachsen der weiblichen Fabrikarbeit gegenüber der männlichen nicht nachzuweisen ist, die Verhältniszahlen sogar merkwürdig konstant bleiben, so gewinnt, wie Martin nachweist, diese beanstandete Arbeit absolut doch an Ausdehnung, sobald der Übergang zum Industriestaate sich vollzieht. Dementsprechend wächst die Zahl der verheirateten Fabrikarbeiterinnen vermutlich auch in ihrem Verhältnisse zur Gesamtbevölkerung. Im Jahre 1890 betrug die Zahl der verheirateten Arbeiterinnen in allen deutschen Fabriken 130079. Ein besonderes Gewicht scheint der Verfasser dem Nachweise beizumessen, dass die relative Ausdehnung der Fabrikarbeit verheirateter Frauen in der englischen Textilindustrie keine geringere sei, als in der deutschen, ein Umstand, aus welchem er die Folgerung zieht, dass England in diesem Punkte keinen Vorzug vor uns habe. Dieser rein formale Schluss hat leider nicht die Wirkung, dass unsere verheirateten Arbeiterinnen zugleich mit derselben Verhältniszahl auch die kürzere Arbeitszeit von 8729 Stunden und den höheren Lohn ihrer englischen Kolleginnen teilen; es ist thatsächlich ein wesentlicher Vorzug, dass die englische Arbeiterfrau nach 87»9 Stunden heimkommt und die Familie eine gemeinsame Mahl­zeit in feierabendlichem Behagen halten kann.

Indem Martin die Ursachen der eheweiblichen Fabrikarbeit unter­sucht, entwickelt er die Ansicht, dass es ein grosser und häufiger Irrtum sei, wenn man annimmt, die Fabrikarbeit verheirateter Frauen entspringe regelmässig oder auch nur meistens dem Bedürfnisse nach Deckung des notwendigen Lebensunterhaltes der Familie. Wäre dem so, so würde die Fabrikarbeit verheirateter Frauen da am häufigsten zu finden sein, wo die Löhne am niedrigsten sind, und umgekehrt würden in Gegenden, wo die Löhne hoch sind, die verheirateten Frauen nicht in der Fabrik zu finden sein. ,,In Wirklichkeit trifft aber so ziemlich das Gegenteil zu. Die verheirateten Frauen suchen eben sehr häufig die Fabrik nur auf, um ihre und ihrer Familie Anstands- oder Luxus-Bedürfnisse zu befriedigen. Oft ist aber auch ungenügender Lohn die Ursache der eheweiblichen Fabrikarbeit, so bei den Krempelausputzern, die eine untere soziale Schicht darstellen.Hat ein solcher Ausputzer drei oder mehr Kinder, so muss die Frau unter allen Umständen Arbeit suchen, nur um den notwendigen Lebensunterhalt der Familie zu beschaffen. Die Thatsache, dass von 246 verheirateten Arbeiterinnen 130 je ein Kind hatten, aber nur 2 je 6 Kinder, hat durchaus nichts auffälliges. Die Kindersterblichkeit infolge der Fabrikarbeit ist nämlich erschreckend gross.

Gewiss wäre die Entfernung der Ehefrauen aus der Fabrik im Prinzip zu befürworten. Ist sie aber möglich? Nein, die soziale Lage der arbeitenden Bevölkerung gestattet die Anwendung dieses Radikalmittels leider nicht; wahrscheinlich würde die nächste Folge eine Vermehrung der Hausindustrie sein mit stärkerer Verwendung der Kinderarbeit. Es kann sich z. Z. in der That nur um eine besondere Schutzstellung der verheirateten Frau in der Gesetzgebung handeln. Die Mutter muss nach und nach den Kindern wiedergegeben werden. Heute wird sie ihnen mehr und mehr entzogen. Wirtschaftliche Reformen, die darauf hinaus­gehen, dem verheirateten Arbeiter und kleinen Beamten eine nach der Zahl seiner Kinder neben seiner sonstigen Bezahlung abgestufte Zulage als Erziehungsgeld zu gewähren, verdienen aufmerksame Beachtung, scheitern aber vorerst an der Unbildung der Masse. Möglich muss im Interesse der physischen, sittlichen und intellektuellen Ausbildung der Kinder sein: 1. Wiederzulassung der Ehefrauen nach einer Geburt nur