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deren Schönheit ausmache, Bahn gebrochen. Früher war ein Ab­weichen von den Gesetzen der Tyrannin Mode unverzeihlich, heute ver­langt unsere praktischere Anschauungsweise geradezu, dass dieselben mitunter einfach übergangen werden. Die Schneiderin von heutzutage muss individualisiren können; sie muss unter Beobachtung aller vor­handenen Mittel für jede ihrer Klientinnen das gerade Passende, Zu­sagende herausfinden. Und weil dazu ausser feinem Geschmack auch ein gewisses Studium körperlicher Eigentümlichkeiten gehört, muss die Schneiderin ein gut Teil Geschmack und Bildung ihr Eigen nennen.

Nicht umsonst spricht man von einerBekleidungskünstlerin! Höchst zutreffend ist dies Wort. Das frühere Arbeiten nach der Schablone hat aufgehört, einer künstlerisch freien Entfaltung von Talent und Geschmack unbegrenzten Spielraum lassend. Künstlerisch sind oft auch die Bezeichnungen, welche man für dies freie Schaffen im Reiche der Kostiimirung hat. Bald spricht man von Komponiren einer Toilette, bald vergleicht man diese mit einem Gedicht, einem Märchen und wie die herrlichen Ausdrücke noch sonst lauten. Wem fällt nun der Löwenanteil an diesem Lobgesang zu? Doch immer nur der Schöpferin des Wunderwerkes, der Schneiderin, während die Trägerin desselben erst in zweiter Linie hervortritt.

Diese modernen Begriffe von der Thätigkeit der Schneiderin mussten auch ihre Stellung ändern. Nicht mehr wie ehedem wird sie den gewöhnlichen Handwerkern zugezählt. Frauen und Mädchen aus den sogenannten besseren Ständen können daher diesen Beruf er­greifen, welcher durch eine verständnisvolle Auffassung ebenso veredelt, als ergiebig gemacht w T ird.

Längst hat die Frauenwelt anderer Länder diese Thatsachen er­kannt. In Frankreich und England besonders in Letzterem ruht die Ausübung der Damenschneiderei vielfach in den Händen von Frauen der besseren Kreise. Mit den von ihnen errichteten Ateliers erwerben sie sich zumeist ein sehr beträchtliches Vermögen, und ihre Stellung, die sie infolge ihrer feinen Manieren zu erhalten verstehen, ist eine hochgeachtete.

Warum in Deutschland nicht auch mit dem veralteten Zopfe auf- räumen, dass Arbeit, öffentlich gezeigte Arbeit herabsetze?! Warum verderben Mädchen und Frauen, die vermöge ihrer Erziehung und Lebensstellung sich etwas höherstehend dünken, sich lieber im Ge­heimen die Augen mit schlecht bezahlten Stickereien, Malereien, Brennarbeiten und wie die als vornehm geltenden Handarbeiten heissen mögen, als dass sie tapfer zum lohnenden Berufe der Schneiderin greifen ?

Die Frauenbewegung, welchem der in jahrhundertelanger Lethargie ihr Leben verträumenden Frau die unbewussten Kräfte und Fähig­keiten wachrief, sie lehre denen, die Talent zur Schneiderin haben,