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gibt. Die Volkszählung von 1890 hat unter 68 034 weiblichen Erwerbs­tätigen in der Industrie der Bekleidung und Reinigung nur 3851 Ehe­frauen, also nur 5,6 Proz., während die ungeheure Zahl der verheirateten Hausindustriellen in der Berliner Konfektion notorisch ist und namentlich auch in der Dyhrenfurthschen Arbeit scharf hervortritt. Die meisten Ehefrauen geben, hauptsächlich aus törichter Furcht vor Erhöhung der Einkommensteuer, einfach nicht an, dass sie gewerblich tätig sind.*)

Es giebt viele Mäntelschneider in Berlin, die einen Teil ihrer Arbeiten durch Lehrmädchen ausführen lassen, um auf diese Weise den ohnehin sehr kärglichen Arbeitslohn zu sparen. Wie gewissen­los dabei häufig verfahren wird, und wie leichtgläubig und gedanken­los das Publikum andererseits vielfach ist, zeigt sich u. A. darin, dass einzelne Mäntelschneider die Lehrzeit auf nur acht Tage festsetzen, und sich dafür 10 M. zahlen lassen. Andere erteilen ihn unentgelt­lich, lassen ihn aber vier Wochen dauern. Während dieser Zeit muss das Lehrmädchen von Morgens früh bis Abends spät angestrengt arbeiten, und lernt dabei trotzdem nichts. Der Schneider, der das Lehrmädchen als Aushilfe betrachtet, giebt ihm nur leichte, einfache Arbeit. Sind die vier Wochen um, so wird das alte Lehrmädchen entlassen und ein neues eingestellt. Will die Entlassene ihre mühsam erworbenen Kenntnisse bei einem neuen Meister verwerten, so wird ihr geantwortet:Nein, Arbeiterinnen, die bei mir nicht gelernt haben, nehme ich nicht. Das nämliche Verfahren wird im Wäschefach, im Kravattenfach, überhaupt bei allen industriellen Arbeiten ausgeübt. Im Kravattenfach muss das Lehrmädchen 10 bis 25 M. Lehrgeld zahlen und noch 14 Tage bis 6 Wochen unentgeltlich arbeiten. In neuester Zeit haben sich diese Schwindeleien auch auf dieKon­fektionsstickerei ausgedehnt. So werden durch Anzeigen Damen zum Erlernen der Perl-Konfektions- und Plattstickerei gesucht: Lehr­zeit 8 Tage, späterer Wochenverdienst 20 M. Kein Mensch lernt aber in 8 Tagen die Perl- und Plattstickerei. Der Wochen verdienst beträgt knapp 8 M.: sehr geübte Stickerinnen bringen es bei 14- stiindiger Arbeit täglich kaum auf 10 M. in der Woche. Da es bei dem Schwindel hauptsächlich auf Damen derbesseren Stände abgesehen ist, und die Lehrherren sich ihren Schnellunterricht mit 12 M. bezahlen lassen, ist das Geschäft ziemlich einträglich. Man lasse sich also nicht auf solche Versuche ein.

Die Konfektioneuse, d. h. die Person, die als Anprobirmodell dient, spielt in dem erwerbstätigen Leben leider eine bedauerliche Rolle. Ihre beklagenswerte geringe Bezahlung erklärt sich aus dem einfachen Grunde, dass man von ihr gar keine Kenntnisse, sondern nur eine geeignete Gestalt verlangt.

*) Soziale Praxis. 181*8. Nr. 32, Sp. 841.