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sich einfachenStiche lassen sich alle die oft so wunderbaren Kunstwerke der Nadel zurückführen.

Als Kunstsickerin findet die Frau ein weites Gebiet, ihre Geschicklichkeit zu bethätigen. Mit der blossen Handfertigkeit ist es natürlich nicht gethan. Im Sticken gehören zu dem technischen Können nicht allein die vollkommene Beherrschung der verschiedenen Ver­fahren, sondern auch die Kunst des Schattirens und eine genaue Be­kanntschaft mit der Natur des Materials. Japanische Goldfaden, die aus vergoldeten, um eine Seele von Baumwolle spieralförmig ge­wickelten Papierstreifen bestehen, wirken beispielsweise anders als Fäden aus Metalllahn oder als die Millerschen Goldfäden, die in Anlehnung an solche mittelalterlicher Herkunft entstanden sind. Das Schattiren verlangt genaue Farbenkenntnis und ein scharfes Auge für die feinsten Abtönungen. Können Schattirerinnen malen, dann um so besser. Die höchsten Anforderungen werden an sie bei der Weberei von Gobelins gestellt, da diese mit einer Anzahl von Abtönungen operirt, die bis in die Tausende geht. Aussergewöhnliche Kräfte werden hoch bezahlt, aber die Nachfrage ist äusserst gering, da in Deutschland nur eine einzige Gobelin-Manufaktur besteht und zwar die von W. Ziesch & Cie., in Berlin, die allerdings schon recht umfangreich ist.

Georg Buss*) sagt: Ein Grundgebrechen, das gerade unter den deutschen Frauen weit verbreitet ist, dürfte aus der Stickerei und manchen andern Zweigen der Nadelkunst energisch zu beseitigen sein: die Hinneigung zur Herstellung feiner und mühevoller Arbeiten. Mit unendlichem Fleisse werden solche Leistungen vollbracht, aber auf Kosten der Augen und der Gesundheit. Wer die Anfertigung der Nadelspitzen kennt, wie sie stellenweise im Erzgebirge ausser dem Klöppeln betrieben wird, kann als Menschenfreund nur wünschen, dass die Maschine einer solchen augenzerstörenden Thätigkeit alsbald ein Ende macht. Wo die Steigerung des Wertes der toten Materie durch die kunstbildende menschliche Hand nur unter Menschenopfer geschieht, liegt aus ethischen und sozialökonomischen Gründen sicherlich kein Anlass vor, einer solchen Wertsteigerung das Wort zu reden. Die haarfeinen Nadelarbeiten auf dem Gebiete der Stickerei kommen auch in der Regel niemals zur rechten Geltung, so dass die aufgewendete Mühe geradezu umsonst ist. Überhaupt wird nach dem Mass der Mühe eine Kunstleistung niemals beurteilt, sondern nur nach ihrer künstlerischen Wirkung. In der Stickerei soll man nach breiter, dekorativer Wirkung streben, und für eine solche ist besonders geeignet die Applikation, die sog. Aufnäharbeit, die schon in den Tagen der mittelalterlichen und besonders der Renaissancekunst in Verbindung mit der Plattstich- und Goldstickerei eine Rolle gespielt

*) Die Frau im Kunstgewerbe. Berlin 1895. S. 130.